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In Kapitel 2 »Historischer Kontext« wurde versucht,
ereignisgeschichtliche Rahmenbedingungen, die
für den untersuchten Zeitraum im Südostalpenraum
und speziell für den vorliegenden Befund in Flavia
Solva-Wagna relevant sein könnten, darzustellen.
Kontrastierend zu dieser weitgehend auf Schrift-
quellen basierenden ereignisgeschichtlichen Per-
spektive und Rekonstruktion der Ereignisgeschichte
soll nun versucht werden, nach den vorgelegten
nichtschriftlichen archäologischen Quellen, kul-
turgeschichtliche Rahmenbedingungen990 für das
Munizipium Flavia Solva-Wagna, insbesondere des-
sen westlichen Stadtrand, während des mittleren
2. Jahr hunderts n. Chr. bis zum Zeitpunkt des Bran-
des zu skizzieren. Ziel ist weniger eine Gegenüber-
stellung, wenn man so will, der ›Spannungsfelder‹
Ereignisgeschichte (Schriftquellen – Geschichts-
wissenschaft) und Alltags- oder Kulturgeschichte
(Überreste der materiellen Kultur – Archäologie),
sondern ist vielmehr, nachzuzeichnen, in welchem
kulturgeschichtlichen Kontext historische Ereignisse
und ihre vielfältigen Auswirkungen direkt oder indi-
rekt wahrgenommen wurden. Die beiden Kapitel
zum historischen und kulturhistorischen Kontext
geben gleichsam die Rahmenbedingungen vor,
innerhalb derer das konkret nachgewiesene Ereig-
nis, ein Brand, plausibel abgeleitet aus dem Befund,
der den Kern der vorliegenden Fallstudie bildet,
erfolgen konnte und von den antiken Zeitgenos-
sen erlebt wurde991. Die beschriebene Vorgehens-
weise soll dazu beitragen, die angestrebte Diskus-
sion über die mögliche Verknüpfung von Daten der
Ereignisgeschichte mit archäologischen Befunden
im Zusammenhang mit der vorliegenden Fallstudie
der Periode II/II+ der Insula XLI von Flavia Solva-
Wagna auf einer ausreichend fundierten Basis füh-
ren zu können (vgl. Kap. 16).
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass diese Arbeits-
weise der kulturgeschichtlichen Auslegung ein
gewisses, den Bereich der positivistischen Fakten-
darstellung überschreitendes Maß an Interpretation
voraussetzt992 und deshalb nur bedingt einer Kri-
tik, die den archäologischen Befund auf die Fakten
reduziert, standhält. Es wurde deshalb im vorliegen-
den Kapitel versucht, soweit möglich Unsicherheiten
der Interpretation offenzulegen und so nachvollzieh-
bar zu machen. Dennoch erscheinen besonders in
diesem Zusammenhang die Querverweise auf die
990 Zur Auffassung von Kulturgeschichte als theoretischem An-
satz zur Rekonstruktion von ›Lebenswelten‹: Hübinger 2000,
165.
991 »Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es, das Allgemei-
ne, die Relationen zu bestimmen, in denen Menschen stehen
und handeln.« Goertz 1995, 62, 126.
992 Kritik an der Wahrnehmung von Fakten durch den Historiker
und Kritik an einem Geschichtsbild, dass auf die Aufzählung
von Fakten beschränkt ist: Carr 1963, 12. 16. 22. 29 f. 100 f. eher den Fakten verpflichteten Kapitel zu Befund,
Funden und deren Auswertung angebracht.
Der vorliegende archäologische Befund erlaubt
es, gewisse Überlegungen zu den Bewohnern der
Insula XLI während Periode II bis zum Brand um
170 n. Chr. abzuleiten. Nach der Lage der Insula am
westlichen Stadtrand und der einfachen, weitestge-
hend auf Holz-Fachwerk basierenden Architektur,
die keine bis kaum aufwendigere Bauelemente wie
Fußboden- und Wandheizungsanlagen oder Zie-
geldächer besitzt oder mit Bauschmuck wie Fuß-
bodenmosaiken, Stuckdekoration oder Wandma-
lerei ausgestattet ist (vgl. Kap. 9), dürfen wir von
zweckorientierten Räumlichkeiten, die grundlegen-
den Bedürfnissen ihrer Bewohner angepasst waren,
ausgehen. Hinsichtlich dieser Bedürfnisse liegen
Hinweise vor, dass für die Räume der Insula XLI
einerseits mit einem Nebeneinander verschiedener
häuslicher Tätigkeiten wie Handwerk, Nahrungszu-
bereitung und Wohnen in benachbarten Räumen
und Häusern sowie andererseits mit der Kombina-
tion dieser Verwendungsmöglichkeiten und einer
multifunktionalen Nutzung eines einzelnen Rau-
mes zu rechnen ist (vgl. Kap. 10). Bautechnik und
-struktur einzelner Häuser der Insula XLI wirken
diesbezüglich durchaus einheitlich den jeweiligen
Erfordernissen genügend und korrespondieren mit
den vermuteten Tätigkeiten. Auffallend ist jedoch
der hypokaustierte Raum U in Haus VI im Nordteil
der Insula. Betrachtet man die Häuser als Gesamt-
ensemble, weicht dieser Bereich deutlich von der
Architektur der Insula XLI ab. Ob wir von diesem
ausstattungsmäßigen ›Gefälle‹ auf unterschiedliche
Personenkreise in diesen Teilen der Insula schlie-
ßen dürfen oder lediglich eine unterschiedliche Nut-
zung dieser Zonen durch denselben Personenkreis
in Betracht zu ziehen haben, ist jedoch nicht zu
beantworten.
Verschiedene Handwerkstätigkeiten wurden wäh-
rend Periode II/II+ auf dem Areal der Insula XLI von
Flavia Solva-Wagna ausgeübt. Während für die
Bein- und Buntmetallverarbeitung von einem spe-
zialisierten Gewerbe auszugehen ist, könnte die
Textilverarbeitung eher auf eine Produktion für den
Eigenbedarf beschränkt gewesen sein.
Beziehen wir grundsätzlich freilich zu hinterfra-
gende, aber mangels Alternativen dennoch heran-
zuziehende herkömmliche Bilder von Geschlechter-
rollen in die Überlegung mit ein, dürfen wir von der
Anwesenheit sowohl von Frauen und/oder Mädchen
als auch Männern ausgehen. Folgt man diesem
Schema, wären die Hinweise auf Textilverarbeitung
und der Fund einer Doppelknopffibel mit Personen
weiblichen Geschlechts, die Hinweise auf Buntme-
tallverarbeitung und der Produktion von Beinarte-
fakten eher mit Personen männlichen Geschlechts
Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Titel
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Autor
- Christoph Hinker
- Verlag
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321