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4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte, Vertreter
198 kann, sondern man braucht es nur, in so fern man es betrachten kann. […] Ein
Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst
müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne
eigentlich zu nützen, nennen wir schön. […] Das heißt mit andern Worten: ich
muß an einem schönen Gegenstande nur um sein selbst willen Vergnügen fin-
den; zu dem Ende muß der Mangel der äußeren Zwekmäßigkeit durch seine
innere Zwekmäßigkeit ersetzt sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst
Vollendetes sein.967
Diese Zitate belegen plastisch, dass wichtige Aspekte von Kants Lehre ein au-
tonomes Momentum entfalteten, das sich vom eigentlichen Hintergrund der
Kant’schen Philosophie sehr bald löste. Hanslicks Hypothese, dass Schönheit
keinen anderen Zweck als sich selbst hätte, könnte jeder zuvor genannten Text-
quelle oder zahllosen verwandten Publikationen entstammen, die dem theore-
tischen Bezugssystem von Kants Lehre fremd waren. Eine wesentlich plausib-
lere Beziehung, die wohl nicht nur auf den damaligen ‚Zeitgeist‘ rekurriert,
zeigt sich aber bei der Kant’schen Steigerung der kognitiven Betätigung im
reflektierenden Geschmacksurteil, die die damalige Deutung von ‚reiner‘ Mu-
sik als nur physische Stimulation verdrängte.968 Weil Kant die Schönheit des
Kunstwerks auf dessen formale Struktur bezieht, wird eine kognitive Kom-
ponente bekräftigt, da auch ‚reine‘ Musik nicht mehr passiv erlebt, sondern
individuell konstituiert wird. Hanslick könnte diesen Einfall wohl auch von
Michaelis bezogen haben, der ebenfalls vermeinte, dass Schönheit nur auf der
„Komposition, also in der Form, nämlich der Melodie und Harmonie“ auf-
baue.969 Insofern Michaelis seine Schrift Ueber den Geist der Tonkunst (1795–1800)
jedoch selbst als die buchstäbliche Ausarbeitung von Kants Lehre sah – der
Titel lautet weiter: mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft –,
wäre eine mittelbare Herleitung weiterhin plausibel. Aber Kant hat die von
967 Karl Philipp Moritz, „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaf-
ten unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in Berlinische Monatsschrift 5/1 (1785),
S. 225–236, hier S. 227f. und 230f. Vgl.: Guyer, Experience of Freedom (wie Anm. 950),
S. 141–144.
968 Eine sekundäre Beziehung von Hanslick, Schiller, Kant usw. sehen dabei etwa: Stollberg,
Ohr und Auge (wie Anm. 248), S. 194f.; Theodore Gracyk, On Music, New York/London
2013, S. 23. Zum ‚stimulus model‘, das auf Descartes’ Philosophie beruht, siehe primär:
Kivy, Music Alone (wie Anm. 414), S. 30–41.
969 Christian Friedrich Michaelis, Ueber den Geist der Tonkunst mit Rücksicht auf Kants Kritik der
ästhetischen Urteilskraft. Ein ästhetischer Versuch, Leipzig 1800, Bd. 2, S. 29. Zu Hanslicks
Kenntnis vgl.: VMS, S. 39. Zur Beziehung von Hanslick und Michaelis siehe etwa auch:
Schmidt, „Hanslicks Formbegriff“ (wie Anm. 53); Seidel, „Ästhetik des Kunstwerks“
(wie Anm. 592), S. 76–82; Grimm, Prager Zeit (wie Anm. 16), S. 153–160. Vgl.: Wilfing,
„Hanslick’s Kantianism?“ (wie Anm. 107).
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Title
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Subtitle
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Author
- Alexander Wilfing
- Publisher
- Hollitzer Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Size
- 16.0 x 24.0 cm
- Pages
- 434
- Keywords
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Category
- Biographien
Table of contents
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423