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II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie?
sowie die Verwirklichung von individuellen Freiheiten, vor allem der Meinungs-,
Rede- und Pressefreiheit, standen im Zentrum der Reformbewegung, die, wie wir
wissen, zumindest teil- und zeitweise – mitgetragen von Joseph II. – verwirklicht
wurden. Die wichtigsten Träger dieser Ideen wurden die bürgerlichen und aristo-
kratischen Beamten. Auf die Ausbildung dieser Männer wurde größter Wert ge-
legt, waren sie es doch, die – vom Kaiser ausgewählt – die notwendigen Reformen
durchführen sollten.
Das Erbe der Aufklärung sollte nicht verloren gehen. Wenn wir Zeitgenossen
glauben wollen, so verschwanden die Reformideen auch dann nicht, als sich in
den Zeiten nach Josephs II. Tod die politischen Konstellationen änderten.
Ignaz Beidtel, der selbst ein nachjosephinischer höherer Gerichtsbeamter in
den verschiedensten Teilen der weitläufigen Monarchie – in Olmütz (Olomuc),
Zara (Zadar), Fiume (Rijeka), Klagenfurt, Brünn und Wien – sowie ein aufmerk-
sam beobachtender Zeitgenosse war, spricht deutlich (und glaubwürdig) von einer
„Aufklärungspartei“ der nachjosephinischen Zeit, die sich in den Amtsstuben, vor
allem bei Beamten der höheren und mittleren Staatsdienstkategorien bürgerlicher
und aristokratischer Herkunft erhalten hätte.37 Heutige Historikerinnen und His-
toriker (Leslie Bodi, Gerda Lettner) nennen diese späten Aufklärer die „Kräfte
der Bewegung“ im Gegensatz zur Partei der Gegenaufklärung, die sie als „Kräfte
der Beharrung“38 bezeichnen. Die josephinischen Reformvorstellungen scheinen
im kollektiven Gedächtnis tief verankert gewesen zu sein, die Erinnerung an sie
und ihre Ideale überlebte trotz Verfolgung, die im Zuge und aus Angst vor der
Französischen Revolution in der österreichischen Monarchie einsetzte – trotz der
Jakobinerverfolgung, der Rückkehr zur Restauration, trotz des Verbots der offe-
nen und geheimen Gesellschaften, der scharfen Kontrolle und Zensur, von denen
vor allem die Beamten sehr betroffen waren. Josephinische Vorstellungen, wenn
auch etwas anderer Natur, sollten auch die Wandlungen der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts überleben. Im Zentrum der Wünsche der frühen bürgerlichen und
37 IGNAZ BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848. Mit einer Bio-
graphie desselben, aus seinem Nachlasse herausgegeben von Alfons Huber, Band 2: 1792–1848
(Innsbruck 1896), S. 4 f., 110 und 204.
38 LESLIE BODI, System und Bewegung. Funktion und Folgen des josephinischen Tauwetters.
In: Wien und Europa zwischen den Revolutionen (1789–1848). 15. Wiener Europagespräch
(= Wiener Schriften 39, Wien/München 1978), S. 37-53; über den Kampf der beiden Bewe-
gungen auch LESLIE BODI, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung
1781–1795 (Frankfurt/Main 1977), S. 425–437; GERDA LETTNER, Das Rückzugsgefecht der
Aufklärung 1790–1792 (= Campus Forschung 558, Frankfurt a. Main/New �ork 1988), S. 42–64.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277