Page - 129 - in Josephinische Mandarine - Bürokratie und Beamte in Österreich
Image of the Page - 129 -
Text of the Page - 129 -
6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus
129
Karl Brockhausen bezeichnete öffentlich die alte Familienprotektion geradezu
als „gemütlich“ gegenüber dem neuen parteipolitischen und nationalen Protek-
tionismus.136 Die Klagen betrafen zwei Entwicklungen: vor allem die Beamten-
vermehrung, die der nationalen Parteienprotektion angelastet wurde, was zum
Anlass genommen wurde, um überhaupt den Abbau von Beamtenposten zu for-
dern. Man vermeinte damit irrtümlich, wie so oft im Laufe der Jahre, dass damit
gleichzeitig die Reform der Verwaltung gelöst wäre. Das Verlangen, so berechtigt
es auch gewesen sein mochte, war allerdings von keinem großen Erfolg begleitet.
Die politischen Bewegungen profitierten zu gut vom Bestand der Beamtenstel-
len, an deren Vergabe sie kräftig partizipierten, sodass sie als Verantwortliche kein
allzu großes Interesse hatten, wie ein scharfsinniger Analyst der Bürokratiefrage
bemerkte, die Posten im öffentlichen Dienst zu reduzieren.137 Selbstredend konnte
auch die Beamtenschaft selbst aus Existenzgründen nur gegen einen Abbau ih-
res Personalstandes sein. Uns Zeitgenossinnen und -genossen des beginnenden
21. Jahrhundert mögen sowohl die Diskussionen wie auch die (vermeintlichen)
Lösungsansätze nur allzu bekannt vorkommen, wie auch die Frage der Verwal-
tungsreform von den Fachleuten vor 100 Jahren genauso wie heute – nämlich zu
eng – gesehen wurde. Zwar stimmt es, dass sich die Beamtenposten sprunghaft
vermehrt hatten. Die (angebliche) Zahl der Beamten betrug, wir erinnern uns,
um 1870 rund 80.000, um 1880 100.000, um 1910 aber schon 400.000.138 Den Be-
obachtungen des bereits erwähnten zeitgenössischen Beamten Olszewski zufolge
war in der Zeit zwischen 1874 und 1901 die Zahl der Beamten auf das Vierein-
halbfache gestiegen, während die Bevölkerung sich nur auf das Eindreiviertelfa-
che vermehrt hatte. In Zahlen ausgedrückt: Einer Bevölkerung von 26.250.599 im
Jahr 1900 in Cisleithanien stand eine Zahl von 263.544 Staatsdienern gegenüber.
In den Zentralstellen in Wien stieg (dem eben erwähnten Bericht zufolge) die
Beamtenzahl von 26.969 im Jahr 1874 auf 65.415 im Jahr 1900. Diese Steigerung
erscheint freilich weniger gewaltig, wenn wir in Betracht ziehen, dass der Staat mit
der Entwicklung des Verfassungsstaates, der Schaffung der Höchstgerichte, mit
der Ausweitung der sozialen Aufgaben, der Entfaltung des Parlamentarismus etc.
viele Aufgaben an sich gezogen hatte, die zu erfüllen waren und die der Arbeit von
Beamten bedurften. Trotzdem ist die Klage, dass die Parteien ein gerüttelt Maß an
136 BROCKHAUSEN, Beamtentum und Protektion, S. 264. Brockhausen hielt übrigens im selben
Jahr sechs Vorträge in der Wiener freien staatswissenschaftlichen Vereinigung mit dem Titel
„Oesterreichische Verwaltungs-Reformen“, die der Verlag Deuticke druckte.
137 ANKWICZ, Europäische Beamtenfrage, S. 86.
138 Siehe das Kapitel „Einige Definitionen, Details und Daten“.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277