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9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme
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wirkte verschlimmernd auf sein Leiden. Ehrhart, von Mitleid erfasst, beschreibt
den vorgeschriebenen Amtsweg und die verschlungenen, nicht vorgeschriebenen,
aber auch nicht verbotenen Amtspfade: „Die gegebene Erledigung war, das Ge-
such dem Landesschulrat in Kärnten zur Amtshandlung zu übermitteln. Diese
Stelle würde im eigenen Wirkungskreis das Erforderliche und Mögliche zu ver-
anlassen haben.“ Diese Vorgangsweise habe ihm aber widerstrebt, wohl wissend,
dass damit der Fall wahrscheinlich abgewiesen werden würde. Da er überzeugt
war „von der nie versiegenden Güte des Kaisers“ und besonders gerührt über die
„groteske“ Wendung der Ehefrau in besagtem Schreiben, „man würde es nicht
glauben, wie der einst so schöne Ratz jetzt zum Skelett abgemagert ist“, gab Ehr-
hart – selbstverständlich im Einverständnis mit seinem Amtschef – das Gesuch
dem Landesschulrat nicht zur „Amtshandlung“, sondern zur „Berichtserstattung“
weiter, damit sich die Landesbeamten „mehr Mühe“ machen mussten, „für den
armen Teufel doch etwas zu finden“. Das Gesuch wurde vom Kärntner Landes-
schulrat tatsächlich positiv erledigt.226 Der „schöne Ratz“ und seine Frau waren
durch die kluge Vorgangsweise eines jungen, einflusslosen Beamten gerettet, was
die Familie Ratz wohl nie erfuhr.
In Sachen Kultur und Kunst zeigte sich der bürokratische Einfluss besonders
vehement, da dem Kunstsinn und Kulturverständnis der Beamten – Faktoren, die
bekanntlich nicht genau beschrieben werden können – die Vorentscheidung an-
vertraut war. Letztlich kam es auf den Minister an. Van Heerde stellte fest, dass der
bürokratische Einfluss auf das Kunstschaffen zwischen 1870 und 1890 abnahm und
ab diesem Zeitpunkt bis zum Ende der Monarchie wieder stark zunahm.227 Es lag
in der Natur der Sache, dass der Staat die Kunst als wichtiges Mittel zu seiner Pro-
paganda, zur Erweckung patriotischer Gefühle und Vaterlandsliebe verwendete,
die vaterländische Tradition stand daher in hoher Gunst. Die moderne Kunst, die
in Wien um 1900 manifest wurde, hatte mit dieser allerdings wenig zu tun. Unter
diesen Voraussetzungen ist es erstaunlich, dass die Beamtenminister, allen voran
der Wissenschaftler Wilhelm August Ritter von Hartel, sich durch sachverstän-
dige Kunstkommissionen und einen Kunstrat beraten ließen und schließlich als
entschiedene Förderer auftraten, obwohl die Moderne in der Öffentlichkeit, be-
sonders in den konservativen Kreisen Wiens, vehementen Anstoß erregte. Man
ließ sich nicht beeinflussen, die Förderung auf verschiedenen Ebenen zu betrei-
ben, durch Beteiligung an nationalen und internationalen Ausstellungen, durch
226 EHRHART, Im Dienste, S. 106 f.
227 Van HEERDE, Staat und Kunst, S. 70, zum Folgenden S. 74–92 und 106.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277