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2. Der Alltag im bürokratischen Leben oder die kleinen großen Unterschiede
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als die Fronleichnamsprozessionen. In Wien schritt der Kaiser unmittelbar hinter
dem „Himmel“ (einem Baldachin), unter dem die Monstranz mit dem Allerhei-
ligsten (Corpus Christi) vom Erzbischof von Wien auf bestimmten Routen durch
die Innere Stadt getragen wurde. Dahinter folgten die Erzherzöge, die Botschafter,
die Leiter der hohen Hofämter, die Geheimen Räte, die Mitglieder der Regierung
und Ordensritter sowie die hohen Beamten der staatlichen Behörden nach Behör-
den- und Beamtenrang, die Offiziere etc.263 In den Hauptstädten der Königreiche
und Länder waren es die Repräsentanten des Souveräns, die Statthalter, in den
Bezirksstädten der Bezirkshauptmann, die hinter dem „Allerheiligsten“ schritten
und hinter diesen folgten dem Rang nach die Beamten der Statthalterei bzw. der
Bezirkshauptmannschaft, der Gerichte und der entsprechenden Steuerbehörden.
Joseph Roth hat in seinem Roman „Radetzkymarsch“ diesem „Fronleichnamsum-
zug“, wie die Prozessionen im österreichischen Volksmund genannt wurden,
und dessen sozialer und kultureller Bedeutung ein literarisches Denkmal gesetzt,
das die Distinktionen innerhalb der Bürokratie, vor allem aber die symbolhafte
Selbstdarstellung von Beamten in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt.
Das Beamtentum war ein eigener Mikrokosmos, „comme univers heureux et
coupable“, wie der Analytiker der Verwaltungsinstitutionen und Lacan-Experte
Pierre Legendre die Bürokratie beschreibt,264 ein Abbild der Gesellschaft, in dem
es ein sehr ausgeprägtes Oben und Unten gab. Daher ist es nicht verwunderlich,
dass der Umgang der Beamten untereinander vollkommen der hierarchischen
Gliederung unterlag. Im Grund können wir den Platz in der amtlichen und so-
zialen Rangordnung den Gehaltsschemata entnehmen. Das impliziert, dass die
Beamten der oberen Rangklassen, das waren im Allgemeinen, wie durch Fried-
länders Zitat angedeutet, die akademisch vorgebildeten, mit den mittleren und
den niederen Beamten sowie den Dienern in den Schreibstuben höchstens einen
dienstlichen, aber sonst kaum einen sozialen Kontakt besaßen. Vielmehr galt das
für den gesellschaftlichen Umgang im Privatleben. Während der hohe und höhere
Beamte als hoch angesehenes oder zumindest angesehenes, der mittlere vielleicht
als angesehenes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft galt, wurde der niedere
Beamte als Kleinbürger gesehen. Es kam diesbezüglich auf das Umfeld und die
Region, wo er Dienst tat, an. Am Land und in entlegenen, bäuerlichen Regionen
263 Siehe auch die farbenfrohe Beschreibung bei FRIEDLÄNDER, Letzter Glanz der Märchen-
stadt, S. 32; auch KLEINWAECHTER, Der fröhliche Präsidialist, S. 51.
264 PIERRE LEGENDRE, L’ amour du censeur, Essai sur ordre dogmatique (= Le champ Freudien,
Paris 1974), S. 212–231.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277