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4. Der private Alltag – das symbolische Kapital
Direktors der Staatsdruckerei etwa weniger als das Amt eines Bezirkshauptmanns
von St. Pölten oder ging man ab den 1870er-Jahren mit den Beamten und ihren
Familien sparsamer um? St. Pölten war damals noch keine Landeshaupt-, sondern
eine bescheidene Provinzstadt mit billigen Mieten, dementsprechend war wohl
die zweite Variante der Fall. Allerdings war die Institution der Dienstwohnungen,
wie bereits erwähnt, im Abnehmen begriffen. Die Aktivitätszulage, die nach dem
Gehaltsgesetz für Beamte 1873 eingeführt worden war, wurde als teilweiser Ersatz
für die fehlenden Dienstwohnungen gedacht. Die so offensichtliche soziale Diffe-
renzierung, die durch die Bestimmungen über die Größe der Dienstwohnungen
vorgenommen worden war, wurde gemildert, indem man sich bei Bemessung der
Höhe der Aktivitätszulage nach den Preisen der Lebensverhältnisse der Dienstorte
richtete. Die Aktivitätszulage wurde, wie erinnerlich, nach vier Ortsklassen gestaf-
felt. Wien stellte als teuerste Stadt der Monarchie die Ortsklasse 1 dar, den Lan-
deshauptstädten Linz, Graz, Brünn und Czernowitz (Černivci, Černovcy) wurde
eine Zulage von 80 % der höchsten Zulage 1 zugewiesen, St. Pölten, Salzburg,
Klagenfurt, Triest, Mährisch-Ostrau (Ostrava) repräsentierten Ortsklasse 3 mit
60
%, den übrigen Orten war der Status der Ortsklasse 4 zugeteilt mit der Hälfte
der höchsten Zulage.364
Trotz der Zulage war, so scheint es, für viele Staatsdiener, zumindest für all
diejenigen, die allein auf ihre Besoldung angewiesen waren, eine „würdige“ Woh-
nung, die den Ansprüchen des höheren (Bildungs-)Bürgertums entsprach, nicht
leistbar. Dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Rudolf Seeger stand in Linz um die Jahr-
hundertwende für seine Familie mit drei Personen eine Mietwohnung zur Verfü-
gung: mit nur einem großen Zimmer, Schlafzimmer und Kabinett.365
Dagegen hinterlassen die Schilderungen über das ererbte Haus der Beamtenfa-
milie Matiegka in einer böhmischen Stadt, wo neben den Schlafzimmern ein Salon
vorhanden und alles sorgfältig mit alten Familienmöbeln, Glasvitrinen, mit Kost-
barkeiten und schönen Dekorstoffen eingerichtet war, einen höchst bürgerlichen
Eindruck.366 Ebenso grandios waren das angeblich „feudale Stiegenhaus“ und die
„riesigen Zimmer“ im Haus der Großmutter von Františka Marková-Jeřbaková in
Teplitz (Teplice) sowie die Wohnung in Prag, als der Großvater Direktor der
364 Siehe Kapitel „Ökonomische und soziale Verhältnisse“; HAFNER, Der sozio-ökonomische
Wandel, S. 163.
365 RICHARD SEEGER, Mittelpunkt war der Vater. In: „Es war eine Welt der Geborgenheit ...“
Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik, hg. von Andrea Schöller und Hannes Stekl (=
Damit es nicht verloren geht 12, Wien/Köln 1987), S. 209. Siehe S. 206.
366 MATIEGKA, MATIEGKOVÁ. In: VOŠALÍKOVÁ , Von Amts wegen, S. 299 f. und 303 f.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277