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VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes
vertretenen Königreiche und Länder“, so erstaunen Umfang und Details, die für
alle bürokratischen Eventualitäten vorsorgten. Und gerade die Regeln für den
Staatsdienst und die Staatsdiener sind bis in das Kleinste ausgearbeitet.604 Doch
genügten die Gesetze, Verordnungen, Erlässe und Normen, der modernen Welt
gerecht zu werden? Bis in die letzten Jahrzehnte des monarchischen Systems stand
dieses lange gewachsene bürokratische System einer Modernisierung durch die
Beamtenschaft nicht im Wege. Sie führten diese in ihrem Sinne durch. Wir ha-
ben allerdings den Eindruck, dass es nach der Jahrhundertwende angesichts der
neuen Probleme schwerfällig geworden war. Die Beamten hatten mit ihrer we-
sentlichsten Aufgabe, mittels der altgedienten Methoden Ordnung in Staat und
Gesellschaft herzustellen, zurande zu kommen. Sie hatten darüber hinaus die un-
dankbare Aufgabe, das System weiterhin zu symbolisieren, ihm Glanz und Glorie
zu verleihen. Zumindest die bürokratischen Eliten erwecken den Eindruck, dass
sie damit umzugehen wussten, indem sie eben nicht dem Idealtypus eines gu-
ten Beamten entsprachen. Dazu gehörte, dass sie die Normen nicht buchstaben-
genau nahmen, sondern selbst interpretierten und daher auf ihre Art Lösungen
fanden. Einige von Friedrich Kleinwaechters, Robert Ehrharts oder Erich von
Kielmanseggs unorthodoxen „Lösungsansätzen“ von bürokratischen Problemen
wurden bereits angeführt.605
Ein Beispiel von einer originellen Handhabung einer vorgesehenen Regel, die
nicht eingehalten wurde, liefert uns der Sozialdemokrat Friedrich Stampfer, spä-
ter Redakteur des Organs der sozialdemokratischen Partei „Vorwärts“. Stampfer
hatte den Text einer nicht schriftlich vorbereiteten Versammlungsrede vor Sozial-
demokraten, einer bis zu Koerbers Ministerpräsidentschaft intensiv kontrollierten
Partei, nicht vorschriftsmäßig der Polizei zur Genehmigung vorgelegt, die Frist
war versäumt. Er sei, so Stampfer, zum zuständigen Polizeikommissär geeilt, um
seinen Text mündlich zu Protokoll zu geben. Doch Polizeikommissär Dr. Navra-
til meinte, er als alter Beamter wisse ohnehin, was in solch einer Rede zu stehen
habe, schrieb eine schwungvolle Revolutionsrede nieder, die der verdutzte Stamp-
fer nur mehr zu unterschreiben hatte. Dr. Navratil war als überwachender Beam-
ter bei der Versammlung anwesend und wartete, so Stampfer, ob er vielleicht eine
Anleihe bei seinen Formulierungen genommen habe.606 Solche Umgehungen, die
604 Vor allem im Band 1.
605 Siehe Kapitel „Typisch ,josephinische‘ Beamteneliten“.
606 FRIEDRICH STAMPFER, Erfahrungen und Erkenntnisse (Köln 1957), S. 18 f., bei SCHI-
METSCHEK, Der österreichische Beamte, S. 207 f.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277