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von Aquin346 – hatte Papst Leo XIII. die Enzyklika Rerum novarum veröffent-
licht. Der darin angekündigte Geist der „Neuerung“ ging freilich nicht so weit,
dass die patriarchalisch-monarchische Auffassung vom Gemeinwesen in Frage
gestellt worden wäre.347 In sozialer Hinsicht regte der Pontifex aber zu einem
grundlegenden Umdenken an. Es entstanden mehrere katholische Denkschu-
len, die sich in zwei Hauptgruppen einteilen lassen: Die „Sozialreform“ wandte
sich unbeugsam gegen den Kapitalismus und zielte auf Wiederherstellung der
alten organischen Sozialordnung, die „Sozialpolitik“ war hingegen auf Versöh-
nung mit dem Kapitalismus bedacht und strebte nach behutsamen Reformen
innerhalb des bestehenden Systems, verstand sich als eine Art soziale Markt-
wirtschaft.348 Während sich in Deutschland unter der Führung des Mainzer
Bischofs Wilhelm Emanuel von Ketteler349 die Letztere durchsetzte, fand in Ös-
terreich die Sozialreform viel Zuspruch. Das Linzer Programm der christlichen
Arbeiterbewegung mit seinen Idealen von Zusammenarbeit und Solidarität
von Unternehmern und Arbeitern kam ihr nahe.350
Wichtigster Vertreter der Sozialreform in Österreich war Karl Freiherr
von Vogelsang, ein 1864 nach Wien abgewanderter deutscher Aristokrat,
dessen publizistische Arbeit351 die ab 1883 in Österreich erlassenen Sozial-
gesetze anregte. Ab 1884 war er in der neu gegründeten Union de Fribourg,
einem Kreis katholischer Sozialtheoretiker in der Schweiz, maßgeblich tä-
tig.352 1888/89 rief er in Wien einen Diskussionskreis für Sozialreformer ins
Leben, bekannt geworden als „Entenabende“ (nach einem Wiener Hotel), in
dem christlichsoziale und konservative Denker ins Gespräch kamen.353 Vo-
gelsangs gediegene Bildung verschaffte ihm selbst bei politischen Gegnern
Respekt.354 Gleichwohl war sein Schwiegersohn und Herausgeber seiner
Werke, Wiard von Klopp, der Ansicht, er sei von den meisten Zeitgenossen
346 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 133; D. berGer, Aspekte, 427; härinG, Gesetz, 262 f.
347 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 137–140; lindGens, Die politischen Implikationen,
84–87.
348 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 143; seefried, Reich, 118 f.
349 Zu ihm vgl. lindGens, Die politischen Implikationen, 86.
350 diamant, Katholiken, 144–146; PelinKa, Stand, 248 f.; tálos, Voraussetzungen, 256;
wohnout, Verfassungstheorie, 3 und 8 f.; wohnout, Regierungsdiktatur, 14.
351 Er war Herausgeber der seit 1874 in Basel erscheinenden Monatsschrift für Gesellschafts-
wissenschaft und der der Österreichischen Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft [...],
seit 1881 Österreichische Monatsschrift für christliche Sozialreform [...].
352 Knoll, Der soziale Katholizismus, 15–17; schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 8 und 23;
weinZierl-fischer, Aus den Anfängen, passim.
353 G. hartmann, Der CV, 71; wohnout, Verfassungstheorie, 4.
354 Victor Adler schrieb ihm: „Sie sind einer der wenigen, deren Urteil in diesen Dingen über-
haupt Wert besitzt.“; hanisch, Konservatives und revolutionäres Denken, 78.
3.3 DIE „GESELLSCHAFTSREFORM“ AUF CHRISTLICH-SOZIALER GRUNDLAGE 91
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book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580