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Vermutungen, österreichische Politiker hätten auf die Entstehung des
Rundschreibens direkten Einfluss genommen, konnten bislang nicht bestä-
tigt werden. Unleugbar ist indes, dass der Situation der jungen Republik, de-
ren führende Repräsentanten zum Heiligen Stuhl beste Beziehungen hatten,
dessen besonderes Interesse galt, insbesondere nach der Verfassungsnovelle
von 1929, und auch die nach 1931 gerade in Österreich sehr intensive Exe-
gese von QA kam nicht von ungefähr. Für Bundeskanzler Dollfuß düften die
Sichtweisen des Vatikans stärker ins Gewicht gefallen sein als jene Mussoli-
nis, und Bundespräsident Miklas, ebenfalls ein Verfechter eines verstärkten
Einflusses der katholischen Kirche auf die Politik, wandte sich im Frühjahr
1934 an den Papst um Rat.406
Die Enzyklika wurde häufig missverstanden: Während aus theologischer
Sicht gilt, dass sie nur den Neubau der Gesellschaft betraf und dass ein Ge-
gensatz zur parlamentarischen Demokratie nicht gesehen wurde, leiteten
maßgebliche Gestalter der österreichischen Politik ein Staatsprogramm dar-
aus ab407: Bundeskanzler Dollfuß bezeichnete QA anlässlich des Allgemeinen
Deutschen Katholikentages 1933 als geeignete „Grundlage des Verfassungs-
lebens“.408 Auch andere Politiker überhörten alle Mahnungen, beispielsweise
von Seiten der christlichen Arbeiter.409 Der Begriff ordines, „Stände“, unter-
lag anachronistischen Verzerrungen.410
Eindringlich erläuterte den Irrtum Ernst Karl Winter, 1934–1936 Vize-
bürgermeister von Wien, der begrifflich zwischen „berufsständischer Ord-
nung“ und „Ständestaat“ unterschied: Nicht mehr jene, sondern dieser sei
das Ziel – obwohl die berufsständische Ordnung grundsätzlich mit jeder
Staatsform vereinbar wäre.411 Nach August M. Knoll war QA nicht selbst
Programm, sondern eine „Grundlage für Programme“; Josef Dobretsberger
habe zu Recht hervorgehoben, dass die Enzyklika keineswegs einzig dem
Gedanken der oeconomia perennis verpflichtet sei.412 Auch Richard Schmitz
406 ebner, Politische Katholizismen, 173 f.; Klieber, Quadragesimo anno, 348–358; lanG, Bun-
despräsident Miklas, 42 und 76; tálos, Herrschaftssystem (2013), 241, 246 f. und 574.
407 beyer, Ständeideologien, 135 f.; burGhardt, Das berufsständische Experiment, 226;
busshoff, Berufsständisches Gedankengut, 455; diamant, Katholiken, 258 f.; ebner, Poli-
tische Katholizismen, 168; huber, Die Verfassung, 19; Klieber, Quadragesimo anno, 358–
362; Klose, Quadragesimo anno, 26; F. luGmayer, Karl Lugmayer, 17; P. nolte, Ständische
Ordnung, 245 f.; orGler, Ständestaat, 81 und 219; reichhold, Kampf, 378–382; retten-
bacher, Bekenntnisfreiheit, 23; sieGfried, Universalismus, 147; tálos, Herrschaftssystem
(2013), 77; unterrainer, Wirtschaftspolitik, 21–25.
408 Zit. nach liebmann, Kirche und Politik, 32; vgl. JuffinGer, Politischer Katholizismus, 49.
409 KluwicK-mucKenhuber, Johann Staud, 93.
410 lindGens, Die politischen Implikationen, 90.
411 winter, Arbeiterschaft, 35; vgl. heinZ, E. K. Winter, 166–168.
412 Knoll, Der soziale Katholizismus, 14; Knoll, Der soziale Gedanke, 231 f.
3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580