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Trotz sichtlicher Verstimmung zwischen Wien und Rom815 waren in Ös-
terreich noch nicht alle Hoffnungen auf Italien erloschen: Mitte April 1937
gelangten zwei Geheimdokumente in die Hände Berlins: ein Auftrag an den
österreichischen Gesandten in London, dem britischen Außenminister mit-
zuteilen, dass sich Österreich zur Wahrung seiner Unabhängigkeit auf Ita-
lien angewiesen fühle, und ein Auftrag an die Gesandtschaft in Rom, die
mitteilen möge, dass Österreich die Kündigung des Juliabkommens in Erwä-
gung ziehe, weil Berlin die Bestimmungen in einer Weise verletze, dass sie
zu einer Belastung für die österreichische Außenpolitik würden.816
Am 22./23. April 1937 trafen Mussolini und Schuschnigg einander in Ve-
nedig. Der österreichische Kanzler, der, auch durch seine profunde huma-
nistische Bildung, ein feines Organ für den Reiz der Lagunenstadt besaß,
behielt diesen Besuch in wärmster Erinnerung, auch wenn ihm nicht ent-
ging, dass Mussolini zurückhaltender war als bei früheren Begegnungen.817
Der Duce unterstrich die Wichtigkeit der Achse Rom-Berlin, betonte aber
auch die Verbindlichkeit des Juliabkommens und forderte Österreich auf,
Konflikte zu vermeiden.818 Schuschnigg verstand auch die Botschaft, die er
durch das Betreten eines in Venedig vor Anker liegenden KdF-Schiffes, also
deutschen Bodens, aussandte.819
Selbst in dieser Situation gab es in Österreich noch Versuche, der Politik
des Duce positive Aspekte abzugewinnen. Der CS nahm den Bericht über
eine in Palermo gehaltene Rede zum Anlass, ihn den „große(n) Meister der
politischen Regie“ zu nennen – wenngleich das Gefühl für die propagandisti-
schen Aspekte des Auftrittes nicht fehlte.820
Im September 1937 reiste Mussolini nach Deutschland. Obwohl Öster-
reichs Position weiterhin in der Schwebe war821, erschienen im CS Notizen,
die um Beschwichtigung bemüht waren.822 Unter anderem wurden ältere
Mussolini-Zitate in Erinnerung gerufen, die Österreichs kulturelle Mission
und die besondere Aufgabe für das Deutschtum würdigten.823 Obwohl der
Duce unmittelbar nach diesem Besuch erklärte, dass sich an der italieni-
schen Politik in Österreich grundsätzlich nichts geändert habe824, gestand
815 schmölZer, Beziehungen, 224–230.
816 Kindermann, Der Feindcharakter, 92.
817 Er datierte den Besuch – acht Jahre später – auf Mai; K. schuschniGG, Requiem, 247.
818 nautZ, Unterhändler, 157; schmölZer, Beziehungen, 230–239.
819 K. schuschniGG, Requiem, 248.
820 CS 29. 8. 1937.
821 schmölZer, Beziehungen, 239–241.
822 CS 26. 9. 1937.
823 CS 26. 9. 1937.
824 K. schuschniGG, Im Kampf, 270. 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN138
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580