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klassischen Liberalismus.119 Da aber die naturrechtliche Harmonisierung
allein versage, müsse der Staat planend eingreifen.120 Euckens Ideal lag in
der Mitte zwischen dem Interventionismus des Wohlfahrtsstaates und radi-
kal-libertärem Politikverzicht.121 Sein pessimistisches Menschenbild ließ ihn
die zerstörerische Kraft der Massen und den damit einhergehenden Verfall
des Denkens fürchten, wobei er sich auf Gustave Le Bon berief.122 Es fehlte
ihm aber nicht die Hoffnung, dass die Menschen, anders als im Sozialismus,
das Denken in Ordnungen internalisieren und Regeln freiwillig befolgen
würden.123 Die Freiburger Schule als „Kombination von unterdrücktem poli-
tischen Liberalismus und reformiertem Wirtschaftsliberalismus“ zu bezeich-
nen, die auch mit dem Faschismus vereinbar sei124, wird ihr nicht gerecht.
In manchen Details vom Freiburger Ordoliberalismus abweichend, über-
trug der soziologisch geprägte Liberalismus von Alfred Müller-Armack dem
Staat auch die Verwirklichung sozialer und gesellschaftspolitischer Ziele.125
Stärker als Eucken betonte er die Bedeutung religiöser Faktoren in der
Wirtschaftsgeschichte und die Unzulänglichkeit der Marktwirtschaft: Sie
dürfe nicht selbst Werte setzen, sondern müsse diese empfangen.126 Sie sei
ein produktiver Mechanismus, dem durch Sozial- und Gesellschaftspolitik
ethischer Gehalt hinzugefügt werde.127
Ähnliches gilt für Wilhelm Röpke, 1928/29, wie erinnerlich, in Graz leh-
rend (Kap. 3.4), der die Nationalökonomie als Geisteswissenschaft betrachte-
te.128 Der Mensch brauche auch ideelle Werte129, mahnte er die Zeitgenossen,
die in seinen Augen den Sinn für anthropologische Konstanten verloren hat-
ten.130 In den dreißiger Jahren verstand er sich als Prophet der drohenden
Apokalypse; seine damals gereiften Arbeiten gehören zu den Hauptwerken
der totalitarismustheoretischen Reflexion des 19. und 20. Jahrhunderts.131 Mit
Engagement sprach er sich sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch
119 rembold, Das Bild, 269–272.
120 GerKen/renner, Die ordnungspolitische Konzeption, 22; A. rauscher, Das Menschenbild,
192 f. und 205; rembold, Das Bild, 295–299.
121 GerKen/renner, Die ordnungspolitische Konzeption, 36 f.; Goldschmidt, Walter Eucken,
152; wildmann, Einführung, 94 f.
122 rembold, Das Bild, 281 f.
123 rembold, Das Bild, 287 f.
124 somma, Der Faschismus, 166.
125 schäfer, Perspektiven, 140; vanberG, Soziale Sicherheit, 229 f.
126 A. rauscher, Das Menschenbild, 189 f.; vanberG, Soziale Sicherheit, 233.
127 schäfer, Perspektiven, 142–144; vanberG, Soziale Sicherheit, 242.
128 habermann, Das Maß, 63 f.
129 habermann, Das Maß, 88.
130 habermann, Das Maß, 14.
131 mooser, Liberalismus, 139. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580