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dreißiger Jahre als „Verwilderung des politischen Kampfes“230, hierin zent-
rale Einschätzungen Hans Karl Zeßner-Spitzenbergs teilend.231 Ähnlichen
Urteilen war auch der Weimarer Parlamentarismus ausgesetzt, den teil-
weise undiszipliniertes, geradezu hemmungsloses Verhalten mancher Abge-
ordneter kennzeichnete.232
Richard Schmitz wertete als demagogisch bezeichnete Rücksichten auf
die „Tagesstimmungen“ der Massen233 als politisches Versagen. Vor einem
Regieren gemäß Volksmeinung, das „nicht regieren, sondern regiert werden“
bedeute, warnte auch das NR: Hier wurde Gonzague de Reynold mit der An-
sicht zitiert, demokratische Gesetze seien „nahezu Freibriefe für sittliche
Hemmungslosigkeit“, die das Geistesleben in Gefahr brächten. Und: „Die
Angst vor der öffentlichen Meinung erniedrigt den Charakter.“ Die „große
Geistesschwäche der absoluten Demokratie“ sei ihr Wahn, alles zu verste-
hen. Dies führe dazu, dass sich „Halbgebildete“ Urteile anmaßten, während
sich die geistig Tätigen zunehmend von der Politik abwendeten.234
Kurt Schuschnigg sah eine Analogie zwischen dem Wähler und dem Kon-
sumenten, der dem wirtschaftlichen Liberalismus seine Dynamik verleiht:
Beide seien unberechenbar.235 Florian Födermayr sprach der großen Mehr-
heit des Volks demokratische Reife weitgehend ab; eine der Ursachen sah er
in einem hemmungslosen Bedürfnis nach Sensation, das die Presse mitunter
in unverantwortlicher Weise ausnütze.236 Auch „zersetzende Agitation und
verwirrende Propaganda“ gehörten für ihn, hierin eines Sinnes mit Alois
Schönburg-Hartenstein237, zu den Schwachstellen der Demokratie.238 Aus
diesem Grund hielt es Ignaz Seipel für falsch, Leuten, die keine Verantwor-
tung tragen, Entscheidungsbefugnisse einzuräumen.239
Für Franz Brandl war „Gesinnungslosigkeit“240 ein geradezu prägendes
Kennzeichen des parlamentarischen Systems – so wie Paul Schrecker 1919
seine Vorbehalte gegen dasselbe mit der mangelnden Homogenität der Wäh-
230 Zit. nach schreiner, Franz Rehrl, 84.
231 NR 7. 8. 1921 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
232 Besonders häufig kam es zu Exzessen einzelner Abgeordneter und zur Diskreditierung des
Reichstags nach 1930; merGel, Parlamentarische Kultur, 368, 386, 428–431 und 450–460.
233 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 26; R. schmitZ, Der Weg, 14; vgl. schweitZer,
Volkstumsideologie, 21.
234 NR 3. 2. 1923.
235 PelinKa, Die politische Theorie, 18–20.
236 födermayr, Vom Pflug, 36.
237 holub, Fürst Alois Schönburg-Hartenstein, 97.
238 födermayr, Vom Pflug, 93; kritisch zur Propaganda in der umfassender werdenden Demo-
kratie newman, Zerstörung, 30.
239 diamant, Katholiken, 100–102.
240 brandl, Kaiser, 416.
4.2 KRITIK AN DER PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE 201
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580