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chen Individuum als höchsten, als angeblich idealen Zweck, beizutragen zur
äußeren Weltherrschaft und zum physischen Wohlergehen der Menschheit,
Maurer und natürlich Freimaurer am Gebäude des materiellen Fortschritts
zu sein.“604
Zumal im technologischen Bereich waren die Bedenken gegen das Neue
in der Tat groß.605 Seit die Technik nicht mehr als Mimesis der Natur begrif-
fen wurde606, erlebten viele Zeitgenossen einen „Modernitätsschock“, der das
Bedürfnis nach Ordnung und Stabilität bewirkte.607 Dazu gehören auch Max
Schelers Vorbehalte gegen rein technische Intelligenz.608
Die Fortschrittsskepsis ist selbst bei Denkern nicht zu übersehen, die
über jeden Verdacht fehlenden Weitblicks erhaben sind wie Thomas Mann,
der 1926 in der Leo-Gesellschaft einen Vortrag über seinen 1924 erschiene-
nen Roman Der Zauberberg hielt.609 Im Salon von Alma Mahler-Werfel traf
er führende Persönlichkeiten des Geisteslebens.610 Der Nobelpreisträger
darf als Vertreter jener typisch deutschen Kulturkritik zitiert werden, in
der sich das schwierige Verhältnis vieler Konservativer zu Wissenschaft und
Technik manifestiert.611 Im Zauberberg stellte er dem Fortschrittsfanatiker
Ludovico Settembrini, dem Inbegriff westlicher Zivilisation, in der Person
des Leo Naphta einen „östlichen“ Menschen gegenüber, der sich dem Ge-
danken eines hierarchisch gebundenen ordo verschrieben hat und in tiefer
Skepsis gegen die Aufklärung die Schwächen des Fortschritts nachzuweisen
bestrebt ist.612 In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hatte er die
mit apolitischer Innerlichkeit und Seele gleichgesetzte „Kultur“ gegen die
mit banalen politisch-sozialen Erscheinungen und Demokratie assoziierte
„Zivilisation“ ausgespielt613, und, überzeugt davon, dass Politik auf Egali-
sierung, Mittelmaß, Kompromiss hinauslaufe, war er auch nach 1922 kein
überzeugter Demokrat geworden.614 So sehr Überzeugungen dieser Art jenen
der konserativ-liberalen Elite des Ständestaates entsprachen, so groß waren
deren Vorbehalte gegen den urbanen und überdies semitophilen Intellektu-
604 v. andrian, Ständeordnung, 145 f.; vgl. dorowin, Retter, 98.
605 Vgl. hanisch, Konservatives und revolutionäres Denken, 26.
606 GG 4 (1978), 557–560 (Organ, G. dohrn-van rossum).
607 P. nolte, Ständische Ordnung, 237.
608 NR 8. 12. 1928 (P. wust).
609 SZ 14. 11. 1926 (R. v. schauKal); dieses Werk wurde in Österreich allerdings vorwiegend
negativ aufgenommen; Zeder, Thomas Mann, 182.
610 buchmayr, Der Priester, 119–125; Roček, Die neun Leben, 199 f.; Zeder, Thomas Mann,
194–210.
611 breuer, Anatomie, 70; seeliG, Die „soziale Aristokratie“, 154.
612 Kröll, Der Bürger, 276–278.
613 boterman, Oswald Spengler, 175 f.
614 andres, „Politik“, 357 f.
5.6 KULTIVIERUNG PERSONALER WERTE 273
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580