Page - 310 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 310 -
Text of the Page - 310 -
über des Fürsten geprägt.74 Als epochales Ereignis würdigte er die Schlacht
am Weißen Berg (1620), in der dem absolutistischen Staat die Ablösung des
alten Ständestaates gelungen sei.75 Beim Werden der österreichischen Groß-
macht seien aber Züge desselben erhalten geblieben.76 Ludwig Adamovich
stellte seinem Lehrbuch des österreichischen Verfassungsrechts historische
Informationen voran, in denen die von Redlich gesetzten Schwerpunkte in
knapperer Form wiederkehrten.77
Während Redlichs Darstellung das auch von der rezenten Forschung ge-
teilte Bild eines Miteinanders von Fürst und Ständen vermittelte, das Ver-
änderungen, auch jene des 18. Jahrhunderts, eher als Integrationsprozesse
denn als Sieg einer bestimmten Seite beschrieb78 und vom Bewusstsein ge-
tragen war, dass die Stände einerseits unter dem Fürsten standen, anderer-
seits selbst Obrigkeit waren, also keineswegs Untertanen79, ein insgesamt
aristokratisch geprägtes System tragend, das diversen sozialen Gruppen,
Interessen und Identitäten eine Bühne bot80, sah Ignaz Seipel im altständi-
schen System einen simplen Dualismus zwischen Ständen und Herrscher,
einen Machtkampf geradezu. Zutreffend ist aber seine mit Adolf Julius
Merkl geteilte81 Einschätzung, dass die Reichs- und Landstände nicht als
Repräsentanten des Volks, sondern als Vertreter eigener Interessen agier-
ten82 und dass ständischer Widerstand gegen die Forderungen des Hofes
keineswegs als Wegbereiter des modernen Parlamentarismus zu verstehen
sei.83 Ein Anwalt der Interessen des Volks und Schützer von dessen Freiheit
war in Seipels Augen nur der Kaiser, die Stände hingegen hätten die Kom-
munikation zwischen beiden behindert.84 Folgerichtig erklärte er 1929, das
gewünschte Ständeparlament könne nicht die „Wiederbelebung des Stän-
destaates der Vergangenheit“ bedeuten, denn „zwischen den alten Ständen
und der ständischen Vertretung, die heutzutage angestrebt wird, besteht
74 redlich, Das Werden, 241.
75 redlich, Weltmacht, 1 und 18–22; redlich, Ausgewählte Schriften, 41 f.
76 redlich, Weltmacht, 24 f.
77 adamovich, Grundriss, 6 f.
78 Vgl. ammerer, Die Stände, 15–17; steKl, Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung,
147–150; stollberG-rilinGer, Vormünder, 8 f.
79 GG 6 (1990), 208 (Stand/Klasse, W. conZe); stollberG-rilinGer, Reich, 15 f.
80 bonaZZa, Tiroler Ständewesen, 189.
81 MSchKP 1, 402 (A. merKl).
82 maZohl-wallniG, Zeitenwende, 227 f.; stollberG-rilinGer, Vormünder, 15–17 und 298–300;
zu Ansätzen eines repräsentativen Charakters landständischer Verfassungen vgl. GG 6
(1990), 242 (Stand/Klasse, R. walther); oestreich, Zur Vorgeschichte, 64 und 68–70.
83 ammerer, Die Stände, 23.
84 seiPel, Der Kampf, 47 f. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN310
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580