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Johannes Messner nannte die Siedlungspolitik in Verbindung mit der
Raumpolitik „einen der wichtigsten Wege der Neubegründung wahrer
Volksordnung“.499 Josef von Löwenthal sprach in seinem utopischen Roman
von einer Maßnahme gegen die Entwurzelung in den großen Städten.500
Friedrich von Weichs sah im Siedlungswesen einen Schutz vor dem Kapi-
talismus.501 Für viele Konservative waren die Flucht aus der Stadt und die
Aufwertung der ländlichen Siedlung auch eine Reaktion auf ihre Vorbehalte
gegen die Übermacht der Technik.502
Den Frauen, deren Tätigkeit in einem außerhäuslichen Beruf nicht er-
wünscht war, boten das Ziehen von Gemüse und die Haltung von Kleintieren
in den Augen der verantwortlichen Politiker eine als sinnvoll empfundene
Beschäftigung503; sie selbst waren mit dieser Lebensform aber nicht immer
glücklich.504 In manchen Fällen wurde die Siedlungsbewegung im Rahmen
des im August 1932 eingerichteten Freiwilligen Arbeitsdienstes konkreti-
siert:505
Es gab eine Zeitschrift mit dem Namen Siedler Presse506, in der 1934 die
Frage gestellt wurde: „Ist Siedeln ein Stand?“ Die Antwort lautete, Siedeln
sei die einzig mögliche Politik des angeblich so morbiden Großstädters. „Und
es gibt einen neuen Stand: ohne Vertretung, ohne Recht, und doch stärker,
neuer, als alle: den Siedler.“507
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi wertete das Siedlungswesen als
Beitrag zum Kampf gegen das Elend. Noch wichtiger war es ihm aber zu
betonen, dass der Arbeiter seinen Schrebergarten gleich liebe wie der Un-
ternehmer seine Villa: „Denn zwischen dem, der etwas besitzt, und dem, der
nichts besitzt, liegt eine Welt, nicht aber zwischen dem, der etwas, und dem
der viel besitzt.“ Der Glaube an die proportionale Steigerung der Glücksmög-
lichkeiten mit dem Einkommen sei irrig, er gelte allenfalls auf den untersten
Stufen. Arbeiter sollten Gärten haben, auch Radio und Fernsehen; Brüder-
lichkeit sei „Sozialismus auf der Basis des Individualismus“.508
499 messner, Ordnung, 242; MSchKP 1, 18 (J. messner).
500 hoffmann, Ständische Ordnung, 171.
501 v. weichs, Der Weg, 43; vgl. unterrainer, Wirtschaftspolitik, 72.
502 breuer, Anatomie, 73.
503 Pasteur, Kruckenkreuz, 190 f.
504 hoffmann, ,,Nimm Hack’ und Spaten …“, 251 und 263.
505 StL 1935, 310–332 (K. doleschal); zum Arbeitsdient vgl. ennsmann, Frauenpolitik, 153;
Geider, Sozialabbau, 100; Grafeneder, Arbeiterfamilie, 40; marschniG, Militarisierung,
70–72; Pasteur, Kruckenkreuz, 149 f.
506 vallaZZa, ,,Wir bauen auf“, LII; zu anderen vergleichbaren Organen vgl. ebd., XLVI–LIII.
507 vallaZZa, ,,Wir bauen auf“, 95.
508 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 119–122. 6.
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580