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ren verloren gegangenen Bindungen ersetzen, gerade die ständischen.880 Der
Staat besitze eine organisierte und monopolisierte Macht, die Nation hinge-
gen übe keine Herrschaft aus, sei institutionell kaum entwickelt, komme we-
der durch Macht zustande noch werde sie durch Macht zerstört: „Der Staat
erfasst den Menschen in seiner Eigenschaft als ‚zoon politikon’, die Nation
erfasst ihn als ‚Wesen’.“881 Oder: „Das Ideal des nationalen Einheitsstaa-
tes zerstört die Sicherheit der Welt. Nation und Staat sind nicht identische
Begriffe. Staat ist organisierte Macht, Recht, Ordnung. Die Nation ist aber
viel mehr. Und man kann eine große Sache nicht in einen kleinen Behälter
sperren.“882 Der mit der Nation identische Staat war für Zernatto ein totaler
Staat.883
Aus denselben Gründen wurde der westliche Nationsbegriff von Er-
nest Renan und Elias Canetti abgelehnt.884 Da er einen erheblichen Grad
an Demokratisierung voraussetzte und einer Gesellschaft mit egalitärer
Wert ordnung entsprach885, enthielt er Elemente, die ständischem Denken
widersprachen. Ein solches ist beispielsweise Zernattos Auffassung, die Na-
tionalkultur sei die Sonderleistung einer Nation im Rahmen eines überna-
tionalen Kulturwerks, die aber keine absolute Eigenart besitze; ihre Beson-
derheit sei lediglich eine Besonderheit im Rahmen einer größeren Einheit.
In diesem Sinn gebe es beispielsweise keine deutsche Kultur, sondern le-
diglich einen deutschen Anteil an der abendländischen Kultur.886 Andreas
Posch erinnerte an Leibniz’ Auffassung vom verborgenen Sinn der Welt, der
zufolge jede Nation eine besondere Seite des Weltplans verwirkliche.887
Im Italien des 19. Jahrhunderts, so wieder Zernatto, habe man versucht,
Gemeinsamkeiten der Abstammung, der Sprache, der Sitten, der Ge-
schichte, des Siedlungsraums, der Gesetzgebung und der Religion und be-
sonders die „Bewusstheit“ der Zugehörigkeit zur Nation zu entscheidenden
Kriterien zu erheben. So groß die Wirkung dieser Thesen in ganz Europa
gewesen sei: Für Zernatto griffen sie zu kurz. Für Mittel- und Osteuropa
wollte er keine verbindlichen Definitionskriterien nennen: Es brauche im-
mer mehrere Verbindungsglieder, damit aus einer Gruppe von Menschen
eine Nation werde888, denn es gebe keine geographische Linie, die zugleich
880 DöMők, Nationalitätenfrage, 61.
881 Zernatto, Vom Wesen, 185 f.
882 Zernatto, Vom Wesen, 99.
883 Zernatto, Vom Wesen, 187.
884 lanGewiesche, Was heißt, 29 f.
885 lanGewiesche, Nation, 35 f. und 42 f.; lemberG, Kulturautonomie, 96.
886 Zernatto, Vom Wesen, 145.
887 NR 13. 3. 1926 (A. Posch).
888 Zernatto, Vom Wesen, 70 f. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN386
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580