Page - 409 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 409 -
Text of the Page - 409 -
Frühmittelalter, in dem Österreich als „Führer und Träger des Reichsgedan-
kens“ über Jahrhunderte beschrieben wurde. Die österreichische Geschichte
zeichne sich durch regionale Unterschiede und kulturelle Vielfalt aus, wäh-
rend der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung ein einheitlicher, daher
falscher Begriff vom Deutschtum zugrunde liege, welcher der „bodenverbun-
denen Vielgestaltigkeit“ zuwiderlaufe.1113 In diesem Sinn würdigte Heilig die
Bedeutung von Slawentum und Romanentum für das österreichische We-
sen.1114 Die Aufgeschlossenheit und die Empfänglichkeit für Fremdes seien
es, was Österreichs Beruf zum Heiligen Reich, so eine der besonders einpräg-
samen Kapitelüberschriften, begründet habe.1115
Breiten Raum widmete Heilig dem Begriff „Reich“ als solchem, der schon
im Landesnamen zum Ausdruck komme. Nomen est omen lautet daher die
Überschrift eines der zentralen Kapitel.1116 Mit „Reich“ meinte er nicht nur
die politische Realität, das imperium, sondern auch das regnum, akzentu-
ierte also den die Christenheit bezeichnenden Begriff1117; zum Wesen der
Reichsidee gehörten zumindest „Spuren eines theokratischen Gedankens“
und „echte Religiosität“.1118 Als deren „Feinde“ nannte Heilig mit Bezug auf
die Geschichte des 14. Jahrhunderts Nominalismus, Konziliarismus und den
damals allmählich aufkommenden deutschen Nationalismus; der 1512 erst-
malig bezeugte und nach dem 16. Jahrhundert nicht mehr übliche Zusatz
„deutscher Nation“ in der Nomenklatur sei abzulehnen.1119 Diese Bezeich-
nung, so auch die Kernaussage eines Artikels im CS, sei von Anfang an rein
geographischer Natur gewesen. Entschieden verwahrte er sich deshalb dage-
gen, eine Verbindung von universalem Imperium und nationalem Deutsch-
tum herzustellen, wie man es nach dem Untergang des Reichs wieder zu tun
begonnen habe. Das Alte Reich habe nur zwei Hauptkennzeichen gehabt:
übernational und christlich.1120 Brüche im Reichsgedanken seien erstmals im
16. Jahrhundert aufgetreten. Mit der Reformation sei die „Gottesgnade“ ge-
schwunden; an ihre Stelle seien Subjektivismus, Zentralismus, Despotismus
und Absolutismus getreten.1121
1113 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 55–58 (K. J. heiliG).
1114 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 60 (K. J. heiliG).
1115 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 134 f. (K. J. heiliG)
1116 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 66 f. (K. J. heiliG).
1117 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 72 (K. J. heiliG).
1118 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 100 (K. J. heiliG).
1119 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 109–115 (K. J. heiliG); vgl. hoor,
Wandlungen, 435.
1120 CS 23. 12. 1934 (K. J. heiliG); ähnlich benda, Die österreichische Kulturidee, 6; vgl. suP-
PanZ, Österreichische Geschichtsbilder, 97.
1121 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 155–157 (K. J. heiliG).
6.8 ÖSTERREICHBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALSOZIALISMUS 409
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580