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Ein Autor, der neue Facetten in die Beurteilung des preußischen Wesens
brachte, war Nikolaus Dohrn, der Chefredakteur des CS. Auch er leugnete
nicht, dass es Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem Preu-
ßentum gebe, aber er versuchte dieses differenziert zu betrachten. Anders
als für Erwin Reisner war der kategorische Imperativ für ihn ein Grund,
das Preußentum als „eine Idee von großartiger Formkraft“ zu bezeichnen;
Kants Ethik habe „mit dem Bombast und Phrasenschwall des National-
sozialismus“ nichts zu tun. Preußentum sei „reine Form“ ohne „genaue ma-
teriale Wesensbestimmung“, der Nationalsozialismus hingegen „falscher In-
halt ohne Form“ mit rein utilitaristischer Sittlichkeit. Zwar sei der „Tag von
Potsdam“1235 ein Irrtum gewesen, der es erforderlich mache, dass Österreich
Gerechtigkeit zuteil werde, Preußentum und Nationalsozialismus gleichzu-
setzen, sei aber nicht statthaft.1236
Auch Alexander Novotny verwahrte sich gegen eine übermäßige Akzentu-
ierung des Dualismus Preußen-Österreich: Von ihm dürften kritische Rand-
bemerkungen auf einem Manuskript von Franz Werfels Aufsatz Ein Versuch
über das Kaisertum Österreich stammen: An den Stellen, an denen der Dich-
ter die Parallelen zwischen dem Staat Bismarcks und dem Dritten Reich
übermäßig betonte, glaubte der Grazer Historiker mäßigend einschreiten zu
müssen.1237
Für Österreicher wie die eben zitierten stand Deutschtum für hohe kul-
turelle Werte, Sitte, Katholizismus, aristokratische Gesinnung, Ordnung
sowie Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit und organischer Gemeinschaft.
Ihre Positionen können keineswegs als Variante der deutschen Volkstums-
ideologie bezeichnet werden1238, und man wird mit Gerald Stourzh festhal-
ten dürfen, dass die These vom besseren deutschen Staat in einem breite-
ren historischen Kontext stand als nur dem des Ständestaates allein.1239
Dass die aus dem Munde von Künstlern und Wissenschaftern kommenden
Äußerungen politisch höchst relevant waren, zeigt ein um 1933 verfass-
tes, in weiten Teilen eher emotionales Memorandum des Leiters der Poli-
tischen Abteilung des Außenamtes, Theodor Hornbostel, zur österreichi-
schen Außenpolitik: Er trat für die Unabhängigkeit von Deutschland ein
und hob die slawischen und jüdischen Wurzeln vieler Österreicher hervor:
1235 Am 21. 3. 1933 rekurrierte Hitler in seiner anlässlich der Eröffnung des neugewählten
Reichstags gehaltenen Rede auf das Preußentum; vgl. haffner, Preußen, 498; wienfort,
Geschichte Preußens, 110 f.
1236 CS 27. 5. 1934 (H. norden); vgl. seefried, Reich, 215 f.
1237 buchmayr, Der Priester, 149.
1238 Gehler, Der lange Weg 2, 62; hanisch, „Christlicher Ständestaat“, 178.
1239 G. stourZh, Außenpolitik, 331–333.
6.8 ÖSTERREICHBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALSOZIALISMUS 421
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580