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demikern und Wissenschaftern intensiv war.1255 Franz Brandl fand, auf die
Habsburgermonarchie zurückblickend, ein „anationales“ und „interkonfes-
sionelles“ Denken, das er – nach 1945, als er die deutschnationalen Neigun-
gen früherer Jahre abgelegt hatte – zu seinem Ideal erhoben hatte, bei den
deutschen Österreichern in höherem Grad verwirklicht als bei anderen Na-
tionen: Deren „Humanismus“ habe jeglichen Nationalismus entbehrlich ge-
macht.1256
Sinnbild dafür war ihm die Stadt Wien, wo im späten 19. Jahrhundert
ein Assimilationsprozess vor sich gegangen sei: Hier hätten „die besten Ele-
mente“ aller Nationen einander getroffen und einen Großstadtmenschen
hervorgebracht, von dem „ein Fluidum hinaus in die Länder und hinweg
über ihre Kirchturmhaftigkeit“ gegangen sei. „Aus der Verbindung des
Deutschen mit dem Andersnationalen seines Kulturgebietes auf dem Wie-
ner Boden entspross auch jene Klasse duldsamer Menschen, die unter Hoch-
haltung der deutschen Kultur den nationalen Extremismus ablehnten, ohne
aber dem orientalischen Phantom der Völkerverbrüderung nachzujagen.“1257
Franz Karl Ginzkey hielt es für möglich, in Wien verschiedenste Völker „zu
einem kleinen europäischen Konzert zusammenzustimmen, in welchem
allerdings, und hierin lag das Wesentliche, nach deutsch-österreichischem
Taktmaß dirigiert wurde“.1258 Er lobte an dieser Stadt „das Transportfähige
ihrer Zivilisation bis an die äußersten Enden des Reiches“.1259 Das alte Ös-
terreich sei ein Paneuropa gewesen, als dessen Offizier er im gemeinsamen
Dienst mit Menschen aus zwölf Nationen zu verstehen, auszugleichen und
zu vermitteln gelernt habe: „Man erzog uns dazu, ein Deutscher zu sein und
trotzdem so vielen Meinungen, als Leute um uns waren, Gerechtigkeit wi-
derfahren zu lassen.“1260 Johannes Messner charakterisierte 1927 die Stadt
Wien als eine, die nicht Internationalismus kennzeichne, was auf Entwurze-
lung deuten würde, sondern Europäertum, eine positive Idee.1261
Als besonders wichtigen identitätsstiftenden Faktor betrachtete man die
Vergangenheit, die weiter zurückliegende in höherem Maß als die jünge-
re.1262 Ernst Karl Winter beschwor ein keltisches Regnum Noricum in An-
1255 brucKmüller, Nation Österreich, 293–295.
1256 brandl, Ein Reich, 531; vgl. noser, Die historische Tragik, 219.
1257 brandl, Kaiser, 35 f.
1258 GinZKey, Heimatsucher, 153.
1259 GinZKey, Heimatsucher, 135.
1260 SZ 7. 9. 1930 (F. K. GinZKey).
1261 NR 26. 11. 1927 (J. messner).
1262 Karoshi, Die Erinnerung, 16; mommsen, Theorie, 184; Potočnik, Bewusstsein, 31; simon,
Demokratische Gesinnung, 71; suPPanZ, Geschichtsbilder, 61 f.; wodaK, Zur diskursiven
Konstruktion, 118 6.
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580