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rat davon die Rede, dass eine Person als Inhaber mehrerer Betriebe mehreren
Berufsständen angehören könne.459 Friedrich von Weichs war sich im Klaren,
dass es bei der Einordnung der einzelnen Berufe in die Berufsstände zu Über-
schneidungen kommen könne, weil viele Berufe verschiedenen Bedürfnissen
dienten bzw. manche Bedürfnisse von verschiedenen Berufen her bedient
würden.460 Außerdem, gab er zu bedenken, bestehe der größere Teil der Gesell-
schaft aus Menschen, „die weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer sind“.461 Otto
Ender bezog daher auch eine Gruppe in seine Überlegungen ein, an welcher
die zeitgenössischen Überlegungen weitgehend vorübergingen, nämlich nicht
berufstätige Familienangehörige.462 Odo Neustädter-Stürmer wollte Familien-
mitglieder, Veteranen und Invaliden als „Berufszugehörige“ bezeichnen.463
Einen von anderen Theoretikern nicht gesehenen Aspekt sprach Felix
Klezl an, nämlich dass die moderne Wirtschaft in ein- und demselben Be-
trieb in der Regel mehrere Berufe vereine.464 Als weitere Folge der Erweite-
rung des modernen Wirtschaftssystems gegenüber dem vorkapitalistischen
nannte er den Umstand, dass nicht wenige Berufe sowohl in abhängiger als
auch in unabhängiger Stellung ausgeübt werden könnten, und in der Indus-
trie sei zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern zu unterscheiden. Zu-
mal bei den freien Berufen zähle nicht die gemeinsame Arbeit an gleicharti-
gen Objekten, sondern die Form des Verdienstes: Ein Honorar zu empfangen
sei nicht dasselbe wie ein Gehalt oder einen Lohn zu beziehen. Andererseits
könne, beispielsweise bei Ärzten, die Verschiedenartigkeit der sozialen Stel-
lung die Gleichartigkeit des Berufsinhalts nicht aufheben.465 Die Stellung
des Einzelnen im jeweiligen Beruf war für Klezl ein zentraler Faktor, defi-
niert durch das Kriterium des wirtschaftlichen Wohlstands und das damit
verbundene soziale Konnubium.466
In den eben referierten Äußerungen klingt das Bewusstsein von der Kom-
plexität des modernen Lebens an, mit der sich die ständische Totalität älterer
konservativer Theorien kaum vereinbaren ließ.467 Die Bedenken bezogen sich
auf eine abstrakte Ständeeinteilung, die Kategorien scharf voneinander ab-
grenzte und mit wechselseitigen Überlagerungen derselben nicht rechnete,
somit der Buntheit des Lebens, dem, was sich einfacher Klassifizierung ent-
459 PMR IX/3, Prot. 999/4 (7. 6. 1935), 35.
460 v. weichs, Der Weg, 19.
461 v. weichs, Der Weg, 11; vgl. schambecK, Kammerorganisation, 456.
462 CS 4. 11. 1934 (O. ender).
463 neustädter-stürmer, Gesetzgebung, 49.
464 KleZl, Beruf, 54 f.
465 KleZl, Beruf, 71–74.
466 KleZl, Beruf, 78.
467 beyer, Ständeideologien, 61–63.
7.6 STÄNDE JENSEITS DER BERUFE 481
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580