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später erläuterte er in einem Leitartikel in der Reichspost, jedes Gemeinwe-
sen brauche eine Autorität, die das Ganze repräsentiere und stark genug sei,
„die Vielheit geistiger und materieller Interessen zum Ganzen zu formen“.170
Dollfuß war in seinem Denken und Handeln von den in seinen Augen
segensreichen Erfahrungen geleitet, die er in seinem persönlichen Werde-
gang mit der Autorität gemacht hatte.171 Bäuerlicher Autokrat, der er war,
glaubte er an ein Regierungssystem nach agrarischem Muster mit einer
starken technokratisch-politischen Elite, der das Wohl des Volks zwar wich-
tig war, die sich aber das Recht vorbehielt, dessen Wünsche als unverbind-
lich zu betrachten.172 Dabei kam ihm die noch im frühen 20. Jahrhundert in
Österreich bestehende Struktur vieler, vor allem ländlicher Gemeindever-
waltungen zugute, in der es eine Art Klientelsystem und einen betont elitä-
ren Aufbau gab173, außerdem die bäuerliche Mentalität, die Pflichten stärker
betonte als Rechte.174 Als Minister und als Bundeskanzler traf er die meisten
Entscheidungen ohne Rücksicht auf andere Meinungen175, unterstützt von
einer Exekutive mit weitreichenden Handlungsspielräumen.176
Kurt Schuschnigg ortete „die Legitimation für die autoritäre Führung […]
in der Sorge für das allgemeine Wohl“.177 Die Zentralverwaltung habe zwar
„niemals die [Funktion] einer diktatorischen Entscheidung“178, brauche aber
die Möglichkeit, durch Ausübung eines Weisungsrechts die Einhaltung des
Regierungskurses zu sichern.179 Gegen die konstitutionellen Bemühungen
des 19. Jahrhunderts hatte Schuschnigg Vorbehalte.180
Anton Klotz stellte sich in die aristotelische Tradition, die Autorität auf
die natürliche Vernunft zurückführte181: In „Fortsetzung von Traditionen
uralter Staatsweisheit“ rechne Österreich – anders als die totalitären Regi-
mes in anderen Ländern – mit der göttlichen Ordnung; der österreichische
Mensch sei seinem Wesen nach konservativ. Schuschniggs Pressedienstlei-
ter war ein Bewunderer der angelsächsischen Tradition, in der nicht Volks-
vertretung in engem Wortsinn maßgeblich sei, sondern „die Übereinstim-
170 dollfuss an österreich, 52 f.; vgl. auch busshoff, Dollfuß-Regime, 192.
171 JaGschitZ, Dollfuß, 208; miller, Engelbert Dollfuß, 21.
172 hanisch, Dilemma, 107 f.; miller, Engelbert Dollfuß 14 f. und 59.
173 miller, Engelbert Dollfuß, 60 f.
174 miller, Engelbert Dollfuß, 70.
175 miller, Engelbert Dollfuß, 20.
176 miller, Engelbert Dollfuß, 58.
177 Zit. nach märZ, Ständestaat, 7; vgl. auch adam, Staatsprogramm, 59.
178 K. schuschniGG, Im Kampf, 100.
179 PMR VIII/6, Prot. 930 (20.–29. 3. 1934), 194.
180 K. schuschniGG, Österreich, 41.
181 newman, Zerstörung, 254 f. 8. STAAT UND
GESELLSCHAFT504
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580