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Richard Schmitz war die Individualität des zu Erziehenden wichtig. Al-
lerdings erlebte er die dreißiger Jahre als Zeit eines Umbruchs, „der […]
geistige Lagerungen gründlich umgeschichtet hat oder umzuschichten im
Begriffe ist“, und als eine Art zweiten Kulturkampf; daher wollte er verhin-
dern, dass Mittel zur Anwendung kämen, „die nicht mehr das Beiwort ‚geis-
tig‘ in Anspruch nehmen durften“. Vor diesem Hintergrund forderte er 1935,
die Schule müsse „die Pflege des eigenpersönlichen Bewusstseins mit der
planmäßigen Erziehung zur Ein- und Unterordnung verbinden“.262
Rudolf Henz, der mit Dollfuß und Walter Adam eng befreundete Publi-
zist und Dichter263, betonte die Wichtigkeit der kulturellen Erziehungs- und
Aufbauarbeit, nicht nur für die Jugend, sondern für die gesamte Bevölke-
rung. Ab 1934 leitete er das Kulturreferat der VF264; ausdrücklich erklärte
er, das neue Österreich strebe keine „kulturelle Diktatur“ an.265 Heftig
bewegte ihn allerdings die Sorge über die „noch brustschwache Demokra-
tie“.266 Er wünschte eine Bildungsarbeit, die den ganzen Menschen erfasse:
„Durch reine Wissensvermittlung kam man eher zu einer verhängnisvollen
Halbbildung.“267
Hier schwingt die tief sitzende Überzeugung mit, es gälte im Bildungs-
wesen zwischen Elite und Masse zu unterscheiden. Was Gertrud Spinnhirn
diesbezüglich über den Bauernstand sagte, ist auf alle Stände übertrag-
bar: Zurzeit sei der neue Geist „nur in vereinzelten, wenn auch führenden
Schichten des Volkes“ vorhanden, man müsse aber auch die Massen errei-
chen.268
Ein geeignetes Mittel, den Massen Bildung zu vermitteln, sah Henz im
Rundfunk, der, wie er ausdrücklich erklärte, keinen „Neutralismus“ üben dür-
fe.269 Seit 1931 Programmintendant der Österreichischen Radio-Verkehrs-Ak-
tiengesellschaft (RAVAG) für Wissenschaft270, stellte er häufig grundsätzliche
Überlegungen an. Dem Vorwurf, der Rundfunk zerstöre die Stille und die
Ehrfurcht vor dem Kunstwerk und verhindere die Selbstbetätigung, hielt er
262 R. schmitZ, Die Bedeutung, 6–8; Karoshi, Die Erinnerung, 25.
263 Genaueres bei henZ, Fügung, 189; vgl. höcK, Medienpolitik, 138–144; venus, Rudolf Henz,
29–32.
264 GoehrinG, Erwachsenenbildung, 623; höcK, Medienpolitik, 142; Kromar, „Österreich-My-
thos“, 75; tálos, Herrschaftssystem (2013), 441–443; venus, Rudolf Henz, 29;
265 venus, Rudolf Henz, 31; vgl. auch Glaser, Kulturleistung, 38.
266 Glaser, Kulturleistung, 28.
267 henZ, Fügung, 124.
268 sPinnhirn, Agrarpolitik, 61 f.
269 Glaser, Kulturleistung, 28; GrosseGGer, Mythos, 300 f.; höcK, Medienpolitik, 72; tálos,
Handbuch, 618 f. (S. mattl); vgl. erben, Schule, 94; tálos, Herrschaftssystem (2013), 438 f.
270 höcK, Medienpolitik, 116; venus, Rudolf Henz, 19; wohnout, Verfassungstheorie, 292.
7.6 SCHUL- UND VOLKSBILDUNG 513
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580