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Dass die Verwirklichung noch fern ist, ist hierbei nicht von Belang.50 Das
muss vielmehr so sein angesichts der Komplexität im inneren Bau, die dem
nunmehr analysierten System anhaftet51 – und vor allem angesichts des-
sen, dass es ohne präzise, gleichsam mathematische Konstruktionen, nur
mit einem in der Geschichte befindlichen Ideal auskommt. In diesen Merk-
malen erkannte Ernst Bloch Zeichen einer „guten“ Utopie.52 Hinter dem ös-
terreichischen Ständestaat verbargen sich ernst zu nehmende, wenn auch
schwer vermittelbar gewordene Spielarten von Konservatismus, die zu den
totalitären Ideologien der Zeit in diametralem Gegensatz standen.53 Es war
der Versuch, ein ganzheitliches Gesellschaftsmodell umzusetzen, in dem der
Einzelne in seinem Denken und Handeln ungleich kohärenter war als in der
„entzauberten“ modernen Gesellschaft, die die Vielzahl der sie kennzeich-
nenden Teileliten begrenzte und somit die Komplexität sozialer Schichtung
reduzierte.54 Und es war, noch wichtiger, der Versuch, Elemente personaler,
somit auch traditionaler Herrschaft in einem dem Rationalen verpflichteten
Zeitalter zur politischen Option zu erklären.
In diesem Sinne ständisch denkenden Menschen bedeutet das bewährte
zeitlos Gültige mehr als das ungewisse Neue, Reflexion mehr als zweifel-
hafte Aktion, ungeschriebene Gesetze sind ihnen wichtiger als positives
Recht. Und sie messen das Zeitliche am Ewigen: Schon deshalb wären sie
nicht in der Lage, das gesamte Leben einem starren System zu unterwerfen
oder sich an lediglich äußerliche Kriterien zu halten. Hier liegt das eigentli-
che Wesen ständischen Denkens: Man darf den Akzent nicht, wie man es mit
Blick auf frühere Epochen zu tun geneigt ist, auf den mit ständischer Frei-
heit verbundenen Faktor soziale Ungleichheit55 setzen oder gar das Bekennt-
nis zu einem System von Privilegien vermuten, sondern es ist der Appell an
jeden Einzelnen, seinen Beitrag zum Ganzen zu leisten, eigenverantwortlich
und im Bewusstsein dieser Verantwortung umso besser, aber jeder auf seine
Art – und nicht angewiesen auf die simplen Handlungsanweisungen einer
absolut, ja mit totalitärem Anspruch auftretenden Vernunft.56
Absolutheitsansprüche sollte, in Analogie dazu, auch die Wissenschaft
nicht erheben – und sich folglich nicht die Freiheit nehmen, in richterlichem
Habitus „ein scharf umrissenes Richtigkeitsbild der sozialen und politischen
50 cyron, Ciceros de republica, 351.
51 freyer, Die politische Insel, 28.
52 bloch, Freiheit, 136–140.
53 Diskussion dieser Begriffe bei P. nolte, Ständische Ordnung, 233.
54 Gerstner, Aristokratie, 104.
55 Vgl. hanisch/urbanitsch, Prägung, 63.
56 KosellecK, Kritik und Krise, 127 und 139; vgl. daniel, Reinhart Koselleck, 170 f.
9. RESÜMEE: STATUS IST ORDO 539
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580