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III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment
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geringe Achtung bei der Bevölkerung.146 So war in den Kronländern die Haltung
der ökonomisch und sozial besser gestellten bürgerlichen Gesellschaft höchstens
von Mitleid, nicht aber vom Bewusstsein bestimmt, die eigentlichen Träger einer
machtvollen Staatsgewalt vor sich zu haben.
In der Haupt- und Residenzstadt Wien vermochte allem Anschein nach die
Ministerialbürokratie mehr Glanz und Glorie des Staates zu vermitteln, dank der
„ideologisch“ doch günstigen Reputation der hohen Beamtenschaft. Eine Reihe
der hohen Bürokraten besaß den Nimbus, „freisinnig“ zu sein147 sowie ein erheb-
liches Maß an Kompetenz zu besitzen, und genoss deshalb in der bürgerlichen
Gesellschaft hohes Ansehen.148 Oft entstammten sie den vielfach miteinander
verwandten und verschwägerten bürgerlichen Beamtendynastien, die traditionell
– aus Mangel eines finanzkräftigen Wirtschaftsbürgertums in der Monarchie –
spätestens seit den Zeiten Josephs II. und erst recht in den Jahren danach den
wichtigsten Teil des Bildungsbürgertums, somit die gesellschaftlichen Eliten stell-
ten und die Kultur der Städte wesentlich mitbestimmten.149
Diese Eliten der höchsten Beamtenschaft funktionierten durchaus im Sinne der
Modernisierung. Sie erwiesen sich diesbezüglich sogar als Avantgarde.150 Sie waren es,
die die Zusammenhänge von bürgerlicher Gesellschaft, kapitalistischer Wirtschafts-
entwicklung und modernem bürgerlich-liberalen Rechtsstaat (wahrscheinlich schnel-
ler als viele der Regierungsmitglieder) verstanden. Sie nahmen die von der Regierung
gewünschten liberalen Wirtschaftsreformen auf und trieben sie vorwärts. Die rasche
Ausbildung einer modernen Wirtschaftsgesellschaft ist durch vielfache Förderungen –
von Banken, Eisenbahnbauten, einer modernen Gewerbeordnung etc. – zum Gutteil
modern eingestellten Beamten zu danken. Durchforsten wir die Staatshandbücher
jener Zeit,151 so stellen wir fest, dass in den 1860er-Jahren hohe Bürokraten als Regie-
rungsbeauftragte in den neuen Institutionen, bei Banken und Eisenbahnen und bald
auch als Abgeordnete im Parlament fungierten, was mit beträchtlichem gesellschaftli-
chen Prestige und wirtschaftlichem Einfluss verbunden war.
146 BEAMTENTUM IN ÖSTERREICH. S. 6.
147 Näheres bei HEINDL, Bürokratie und Verwaltung im Neoabsolutismus, S. 239 f.
148 HEINDL, Bürokratie und Verwaltung im Neoabsolutismus, S. 241 und 243.
149 Heindl, Gehorsame Rebellen, S. 267–334; siehe auch Kapitel „Die ,gut-bürgerliche‘ Gesell-
schaft“.
150 Die folgende Analyse bei HEINDL, Probleme der Edition, Einleitung zu ÖMR. III/1, S. XLVII
f., LX f.
151 HOF- UND STAATSHANDBUCH DES ÖSTERREICHISCHEN KAISERTHUMES
(Wien 1848), Wiederaufnahme und Fortsetzung: HOF- UND STAATSHANDBUCH DES
KAISERTHUMES ÖSTERREICH (Wien 1856 ff).
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277