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VI. Inszenierungen
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2. Selbstinszenierungen – Selbstzeugnisse
„unnachahmliche Würde“, „strenge Sachlichkeit“, „profunde Sachkenntnis“
(Alexander Spitzmüller)
Pierre Bourdieu geht in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ eingehend auf die
„Arten des Sich-Unterscheidens“ in einer Gesellschaft ein und weist auf die grund-
legenden Differenzen zwischen „Luxus- und Notwendigkeitsgeschmack“495 hin.
Er zeigt auf, dass das Bürgertum die Möglichkeit der Entwicklung eines Luxusge-
schmacks besaß und sich mit der entsprechenden Demonstration ihrer Errungen-
schaften, wie Vermögen, Bildung, Kultur, Manieren, gutem Geschmack in Kunst
und Alltagsleben etc., von der Arbeiterklasse absetzte. Diese Inszenierungen hatten,
wie Bourdieu sagt, „Herrschaftseffekte“ zur Folge. Aus dieser Bourdieu’schen Per-
spektive wurden die Texte der privaten Beamtenaufzeichnungen von mir gelesen.
Die Gruppe der bürokratischen Eliten hatte es viel schwieriger als heute durch
Inszenierungen ein gewisses öffentliches Image aufzubauen. Den Beamten fehlte
die Breitenwirkung moderner Massenmedien. Auch die Zeitungen kamen nicht
infrage, da ein kaiserlicher Beamter sich unmöglich öffentlicher Medien zwecks
Selbstdarstellung bedienen konnte. Es hätte gegen die dem Beamten auferlegte
Diskretion verstoßen. Was ihnen blieb, war Memoiren zu verfassen. „Erinnerun-
gen“, „Denkwürdigkeiten“, „Memoiren“ und „Autobiografien“ ermöglichten es
ihnen, sich und ihren Stand nach ihrer Amtszeit „ins rechte Licht“ zu setzen. Wir
besitzen nicht wenige publizierte sowie unpublizierte autobiografische Aufzeich-
nungen, aber auch in diesen war – wie schon ausgeführt – Amtsverschwiegenheit
zu wahren, die bis zum Tod und darüber hinaus vom Beamten verlangt wurde.
Die Aussagen in Selbstzeugnissen sind bekanntlich mit großer Vorsicht zu behan-
deln. Erinnerungen sind selektiv, können auf Irrtümern beruhen, bewusste Lügen
einbauen – unseren Verdächtigungen sind diesbezüglich keine Grenzen gesetzt!496
Doch erzählen uns diese Selbstdarstellungen vom Image, das Beamte von sich ver-
breiten wollten, ob dieses in der Realität nun stimmte oder nicht, ob sie bewusst
oder unbewusst logen oder die Wahrheit sprachen. Die Selbstzeugnisse, Memoi-
ren, Autobiografien, Tagebücher und Briefe vermitteln uns das Idealbild und den
Wertekatalog, dem Beamte entsprechen wollten, auch wenn sie im Geheimen
495 BOURDIEU, Die feinen Unterschiede, S. 298 ff., auch 585–619.
496 Siehe auch Kapitel „Die zwei Realitäten der Bürokratie“. Zur Beurteilung von Selbstzeugnissen
ECKHART HENNING, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik (Berlin 2012).
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277