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4. Der private Alltag – das symbolische Kapital
fen. Der ungarische Germanist István Fried kommt zu einem ähnlichen Befund:
Er betrachtet das mentale Unverständnis der Einheimischen als gravierend (abge-
sehen von der Tatsache, dass die österreichisch-ungarischen Beamten trotz aller
ehrlichen Bemühungen Vertreter einer fremden Macht waren, somit die Fremd-
herrschaft verkörperten). Das Amt erschien ihnen als abstrakt und die Verwal-
tungsstrukturen unvertraut. Die Beamten aber hatten mit Gesetzen, Verordnun-
gen und Erlässen einer Regierung zu kämpfen, die weit weg von Bosnien erlassen
wurden und die teilweise von den Bürokraten selbst als unpassend für das Land
empfunden wurden. Die Rolle des Amtes als „sorgender Vater“, als „Über-Ich“,
konnte sich in der Vorstellungswelt der einheimischen Bevölkerung sehr schnell
in die eines „Unterdrückungsorgans“ verwandeln, das vehement abgelehnt wurde.
Einheimische Beamte, die vertrauensbildend hätten wirken können, gab es, wie
erwähnt, höchstens in den niederen Rängen, ein Problem der Fremdherrschaft,
die die Lage der österreichisch-ungarischen Bürokratie in Bosnien entscheidend
verschärfte.449 Andererseits schließt Lejla Čampara, dass die Bosnier nicht bereit
waren, ihre Söhne zum Studium nach Wien zu schicken, mit dem Argument, dass
sie dort der Familie und dem eigenen Volk entfremdet würden.450 Somit blieb die
Beamtengesellschaft unter sich.
Freizeitgestaltung als Netzwerkbildung
Die Freizeitgestaltung diente, abgesehen von der Entspannung, den eigenen Vor-
lieben und Freuden, aber auch gesellschaftlichen Verpflichtungen und somit der
Bildung von sozialen Netzwerken. Selbstverständlich richteten sich die Formen
der Freizeitgestaltung nach den finanziellen Ressourcen, die zur Verfügung stan-
den. Von den Essenseinladungen, Theaterbesuchen und Ausflügen an den Wo-
chenenden, die bei den halbwegs im Wohlstand lebenden Bürokraten auf der Ta-
gesordnung standen, war schon die Rede.451 Sie fielen der geregelten Arbeitszeit
des Haushaltsvorstands wegen mehr oder weniger auf das Wochenende. Schon
um die Jahrhundertmitte berichtete uns Sektionschef Gustav Höfken von Aus-
flügen in den Wienerwald, die er mit der Familie an den Sonn- und Feiertagen
meistens mit dem „Verschönerungs- und Vergnügungsverein“ Perchtoldsdorf
449 ISTVÁN FRIED, Der Beamte in der Literatur. In: Im Takte des Radetzkymarschs … Der Be-
amte und der Offizier in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Joseph P. Strelka (= New
�orker Beiträge zur österreichischen Literaturgeschichte 1, Bern/Wien 1994), S. 43–56.
450 ČAMPARA, „Wie wir im 78er Jahr unten waren“, S. 331.
451 Siehe Kapitel „Die ‚gut-bürgerliche‘ Gesellschaft“; auch STREMA�R, Erinnerungen, S. 65
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277