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IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn?
Die Beamten hatten freilich in der franzisko-josephinischen Zeit wohl nur mehr –
wenn überhaupt – eine sehr verwässerte Idee von Lipsius’ Staatsrechtslehre. Doch
die Tugenden waren ihnen überliefert.
Durch die diffizile Stellung gegenüber dem Allerhöchsten Herrn, auf die dieser
pochte, standen die Beamten zwischen Kaiser und Staat, die ein moderner Be-
amter nicht mehr gleichsetzte, bzw. später zunehmend mehr zwischen Nation/
en und Partei/en. Die jeweiligen verschiedenen Positionen der Bürokratie in und
zwischen den im österreichischen Kaiserstaat so sensiblen Komponenten waren
häufig ineinander verzahnt. Es entstand eine schräge Verquickung, ein äußerst
kompliziertes Mehrecksverhältnis, in das die Beamtenschaft eingezwängt wurde.
Das persönliche Selbstgefühl eines jeden Beamten, seine ethische Haltung als Be-
amter und Staatsbürger, seine politische Überzeugung, ja sogar seine familiären
und Freundschaftsbeziehungen, seine ökonomische Situation sowie sein Image
nach außen hingen jeweils von seiner Entscheidung für ein Handeln im Sinne für
Kaiser, Staat, für „seine“ Nation und eine Partei ab. (Davon soll noch die Rede
sein.)
Das Dilemma, das sich aus der Koppelung ergab, weisungsgebundener Beam-
ter und zugleich freier, verantwortlicher Staatsbürger zu sein, zeigte sich in aller
Schärfe schon bei der ersten Konstituierung des Reichsrates nach der Verfassung
von 1867, als Beamte – vorzügliche Repräsentanten des juristisch ausgebildeten
Bildungsbürgertums – politische Mandate übernahmen. Im Jahr 1861 waren es 20
% gewesen, die die öffentlich Bediensteten (mit den Hochschulprofessoren und
Richtern) als Abgeordnete im ersten Reichsrat stellten, später sollte die Zahl der
Verwaltungsbeamten im Abgeordnetenhaus immerhin rund 10 % (manchmal auch
weniger) betragen.26 Als im Jahr 1870, als es kurzzeitig eine konservativ-föderalis-
tische Regierung gab, drei Statthalter – der Statthalter von Tirol-Vorarlberg Jo-
seph Freiherr von Lasser,27 gewesener und auch zukünftiger (liberaler) Minister,
der Statthalter von Mähren, Adolph Freiherr von Poche, und der Landespräsident28
von Schlesien, Hermann Freiherr von Pillersdorf – als Vertreter im Abgeordne-
tenhaus gegen die Regierung und gegen die Grundsätze der kaiserlichen Thron-
26 FRANZ ADLGASSER, Kontinuität oder Wandel? Wahlreform und das österreichische
Parlament 1861–1918. In: J. GEORGIEV, J. K�SELA (Hg.), Kapitoly z Dějin stavovského a
parlamentního zřízení (Kapitel aus der Geschichte der repräsentativen und parlamentarischen
Institutionen) (Prag 2004), S. 71–84.
27 Zu Lasser siehe Kapitel „Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung“.
28 Landespräsident wurden die Statthalter der kleinen Kronländer Salzburg, Kärnten, Schlesien ,
Bukowina und Krain genannt.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277