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IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn?
unter den Beamten Existenzängste und antisemitische Ressentiments zu schüren,
sodass die Christdemokraten gegen Ende des Jahrhunderts wünschten, die Juden
wenigstens vom Richteramt auszuschließen, da sie Probleme in der Eidesleistung
christlicher Staatsbürger vor einem jüdischen Richter sahen.46
Der Kaiser reagierte auf die Fälle von parteipolitisch agierenden Beamten, die
für ihn und wohl auch für die meisten Mitglieder der Kabinette untragbar waren,
scharf. 1895 griff er höchstpersönlich in die staatsbürgerlichen Rechte der Beamten
ein. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch wurde ein (heiß umstrittener und vom
Parlament bekämpfter) Erlass durch den provisorisch mit der Leitung der Regie-
rung betrauten Graf Kielmansegg herausgegeben, der den Beamten die politische
Betätigung untersagte.47 Einige Jahre später (im Jahr 1900) war es Ministerpräsi-
dent Ernest von Koerber,48 der die Beamten ermahnte, eventuelle weltanschau
liche
Gesinnungen bei ihren Amtshandlungen aus dem Spiel zu lassen. Und 1906 rief
Ministerpräsident Beck die Bürokratie zu „voller Objektivität“ und Gerechtigkeit
auf.49 Wir dürfen nicht vergessen, dass die eben erwähnten Ministerpräsidenten
aus dem Beamtenstand kamen und sehr gut über die politischen Ansichten, die
Weltanschauung sowie über die Arbeitsmethoden ihrer früheren Kollegen aus ei-
gener Anschauung – vielleicht auch aus selbst geübter Praxis während ihres Be-
amtenlebens – informiert waren. Taaffe, Kielmansegg, Badeni, Koerber, Beck, die
letzten Ministerpräsidenten der Monarchie Max Hussarek-Heinlein, Ernst Seidler
von Feuchtenegg und andere kamen alle aus dem hohen Beamtenstand.50
Im Jahr 1907 ereignete sich ein aufsehenerregender Fall: Drei Beamte waren
wegen politischer „Umtriebe“ gemaßregelt worden. Sie hatten „politisch agiert“,
weil sie bei der Reichsratswahl, der ersten Wahl nach dem allgemeinen gleichen
Männerwahlrecht, kandidierten. Jene zwei, die vorerst ohne Erfolg waren, wurden
in die Bukowina nach Kärnten versetzt. Dr. Leopold Waber gewann die Wahl
und wurde christlich-sozialer Abgeordneter. Das offizielle Organ der Regierung,
die „Wiener Zeitung“, leugnete jeden Zusammenhang mit der parteipolitischen
46 MEGNER, Beamte, S. 284.
47 GOLDINGER, Autoritäre Züge, S. 320; auch ERNST HANISCH, Beobachtungen zur Ge-
schichte der österreichischen Bürokratie. In: Zeitgeschichte 14/1 (1986), S. 11; HEINDL, Was ist
Reform?, S. 170.
48 Koerber an alle Landeschefs vom 20. Jänner 1900, zit. nach URBANITSCH, Vom „Fürstendie-
ner“ zum „politischen Beamten“, S. 166; siehe auch DEAK, The Austrian Civil Service, S.
261–
268.
49 ALO�S FREIHERR von CZEDIK, Zur Geschichte der k. k. Ministerien 1861–1916, Band 3,
S.
3. Zeitabschnitt 1905–1908 (Teschen 1920), S. 82 f.
50 Details dazu im Kapitel „Was blieb?“.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277