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IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn?
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vollzog. Es scheint signifikant, dass nach 1848 das Unterrichtsressort von Leo Graf
Thun-Hohenstein, einem Aristokraten mit Feudalbesitz, der über ein breites Wis-
sen an kulturellen und wissenschaftlichen Inhalten verfügte und ein weltgewand-
ter Kosmopolit war, geleitet wurde. Ab den 1860er-Jahren waren die Fachleute,
Beamte und Wissenschaftler, als Leiter am Werk: Ihre Berufslaufbahnen, die Van
Heerde unter die Lupe nahm, zeigen, dass von 16 Unterrichtsministern 13 Beam-
tenminister waren und 9 davon direkt aus dem Ministerium kamen.225 Manche
versahen in den Sparten Universität und Ministerium Dienst. Ein Beispiel ist Mi-
nister Wilhelm August Hartel, Altphilologe an der Universität Wien, später Lei-
ter der kaiserlichen Hofbibliothek und Sektionschef im Unterrichtsministerium,
1900 bis 1905 Unterrichtsminister. (Von ihm wird noch die Rede sein.)
Ein schönes Beispiel für die These, dass Einfluss auch von jungen Konzeptbe-
amten genommen wurde, liefert uns Robert Ehrhart, der die Behandlung eines
Majestätsgesuchs im Unterrichtsministerium schildert. Majestätsgesuche, die di-
rekt an den Souverän zu richten waren, pflegten – so wollte es die Amtstradition
– von der Kabinettskanzlei an den zuständigen Bearbeiter des jeweiligen Minis-
teriums „herab zu kommen“. Es gab für die Geschäftsbehandlung drei Möglich-
keiten: Entweder waren die Majestätsgesuche versehen mit der „großen Signatur“
(einem vom Kaiser eigenhändig unterzeichneten F. J.) oder mit der kleinen (mit
der Zeichnung eines Beamten „ab imperatore“) oder ohne jeden Vermerk. Im
ersten Fall hatte das Ministerium unter allen Umständen zu recherchieren und
einen Vortrag an den Kaiser über den Fall zu erstatten, im zweiten war die Erledi-
gung dem Ermessen des Ministeriums anheimgestellt, im dritten war das Gesuch
so zu behandeln, als wäre es nicht an die „Allerhöchste Person“, sondern an die
zuständige Verwaltungsstelle gerichtet worden. Der zuständige Beamte hatte so,
selbst wenn er jung und in der Hierarchie unbedeutend war, Einfluss auf Ent-
scheidungen, die der kaiserlichen Gnade vorbehalten waren, da er als Referent den
Vortrag an den „Allerhöchsten Herrn“ vorbereitete. Erst recht nahmen die Büro-
kraten Einfluss im zweiten und dritten Fall, in denen die Beamten des jeweiligen
Ministeriums die Gesuche nach eigenem Ermessen entscheiden durften. Ehrhart
erinnert sich in seiner Autobiografie an den Fall eines Majestätsgesuchs der Gattin
eines ehemaligen Lehrers namens Ratz aus Klagenfurt um die Gewährung einer
Pension für den Ehemann, das ohne Vermerk an das Ministerium gekommen war.
Die normalen Voraussetzungen für eine Pensionsgewährung lagen offenbar nicht
vor, der Mann war alt und krank, die missliche wirtschaftliche Lage des Ehepaares
225 Van HEERDE, Staat und Kunst, S. 68–93.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277