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V. Das soziale Umfeld
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der sogenannten Gründerzeit eine Reihe von anderen Gruppen gebildeter Bürger
herangewachsen waren, die den beamteten Bildungsbürgern zur starken Konkur-
renz wurden: Andere Berufsformationen hatten Chancen des Aufstiegs gewonnen,
die sie auch zu nützen wussten. Professoren der neu reformierten Universitäten
und Gymnasien, Techniker, Chemiker, Physiker und Manager von Unternehmen,
Künstler, Banker sowie industrielle Angestellte hatten ein beträchtliches Sozial-
prestige erreicht, sodass sie zumindest teilweise zur sogenannten zweiten Gesell-
schaft gezählt werden konnten. Die Beamten waren eine Gruppe unter vielen an-
deren geachteten bürgerlichen Gruppen geworden.433 Ohne Zweifel gehörten viele
von ihnen nicht automatisch zur „zweiten Gesellschaft“.
Von welchen sozialen Gruppen die „zweite Gesellschaft“ überhaupt konstitu-
iert wurde, ist heute umstritten.434 Traditionsgemäß wurden dazu die Neugeadel-
ten, die kleinadeligen Unternehmer, Beamten und Offiziere, gezählt. Die „zweite
Gesellschaft“ wandelte sich allerdings so rasch wie alle anderen sozialen Schichten.
In der Gründerzeit ist es einfacher zu definieren, wer nicht dazugehörte: Jedenfalls
war nicht Teil dieser „zweiten Gesellschaft“ der alte (grundbesitzende) Adel, der
unumstritten immer noch die „erste Gesellschaft“ repräsentierte. Zur „zweiten
Gesellschaft“ gehörten sicherlich immer noch die oben genannten Kleinadeligen,
auch die bürgerlichen durch Industrialisierung und Urbanisierung reich geworde-
nen Großbürger, die führenden Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren, die durch
den Siegeszug der Professionalisierung an sozialem Prestige gewonnen hatten und
dazu gehörten wohl auch die nicht reichen, aber einflussreichen Vertreter des Staa-
tes, sowohl die Minister und Höchstrichter als auch die Mitglieder der Hochbü-
rokratie, die Sektionschefs und die mit dieser Gesellschaft verwandten, versippten
und eingeheirateten Beamten.
Bei näherem Hinsehen sind die Widersprüche der zeitgenössischen sozialen
Einschätzungen gar nicht so widersprüchlich: Zur „guten“ (zweiten) Gesellschaft
gehörten die Vertreter des Kapitals, des Staates und der einflussreichen (alteinge-
sessenen, nichtadeligen) Kreise. Ein Kriterium war sicher, ob diese Vertreter auch
in den prominenten (zum Teil jüdischen) Wiener Salons, etwa der Amalia Szeps,
Frau des Journalisten, Redakteurs, Zeitungsgründers und Freund des Kronprin-
433 HEINDL, Was ist Reform?, S. 173.
434 Dazu neuerdings HELMUT RUMPLER, Die Intellektuellen in Cisleithanien. In: Die Habs-
burgermonarchie 1848–1918, IX: Soziale Strukturen, 1. Teil: Von der feudal-agrarischen zur bür-
gerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 2: Von der Stände- zur Klassengesellschaft, hg. von
Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch (Wien 2010), S. 1136–1142, mit weiteren Literaturanga-
ben.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277