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VI. Inszenierungen
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tentums ungebrochen in der Zeit der Ersten Republik fort.483 Diese und viele an-
dere Figuren wurden von den bereits genannten Literaturwissenschaftlern Magris,
Schmidt-Dengler und Zelger ausführlich beschrieben. Die Illustrationen reichen,
verkürzt gesagt, von einer ironischen, boshaften, oft auch liebevollen Beschrei-
bung bis zur Idealisierung von Beamtenfiguren als Retter, zumindest als Stützen
des österreichischen Monarchie oder der Dämonisierung als Vertreter einer ge-
radezu überirdischen Macht. Die Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre spiegelt
viele Facetten. Sie reflektiert die Sicht der Außenwelt auf das Beamtentum.
In diesem Zusammenhang scheint mir Robert Musil ein erstklassiger Inter-
pret zu sein. Musil hat sich retrospektiv, aber nicht ohne eigene lebendige Er-
fahrungen als Bibliothekar der Technischen Hochschule in seinem Roman „Der
Mann ohne Eigenschaften“ mit verschiedenen Beamtentypen der ausgehenden
Monarchie (bekanntlich im Jahr 1913) auseinandergesetzt. Besonders reizvoll ist
für eine Historikerin, die an die übliche Gegenüberstellung von bürgerlicher und
adeliger Bürokratie gewöhnt ist, die Rollenverteilung, die Musil vornimmt: Sek-
tionschef Tuzzi, der einzige bürgerliche Sektionschef im Ministerium des Äußern
und des kaiserlichen Hauses, „das“, so Musil, „noch viel feudaler war als die ande-
ren Regierungsbüros“,484 wird konfrontiert mit dem wirklich Feudalen, Majorats-
herrn, Grundbesitzer und Industriellen, dem reichsunmittelbaren Grafen Leins-
dorff, der in seinem Leben weder ein Amt bei Hof noch im Staat bekleidet hatte,
somit „nichts als Patriot“485 war. Musil ironisiert die bürokratischen Klischees,
indem er die erwartete Rollenverteilung von adelig und bürgerlich umkehrt. Der
„Patriot“ Leinsdorff, offensichtlicher Anhänger des bürgerlichen Leistungsprin-
zips und Feind der „Erbsünde Trägheit“, „war der Erfinder der großen vaterlän-
dischen Aktion“ und entwickelte für sein Lieblingskind, die „Parallelaktion“,
plötzlich „bürokratische Tugenden“: Mit geradezu enormem Fleiß, Rastlosigkeit,
Akribie, die für gewöhnlich dem (bürgerlichen) Beamtentum zugeschrieben wer-
den, und fixen, dem Apparat entnommenen Ordnungsregeln, setzt er unentwegt
Tätigkeiten. Wohl nicht zufällig entpuppen sich diese Aktionen letztendlich als
l’art pour l’art, als bürokratischer Selbstzweck.486 Die Anwesenheit des adeligen
Majoratsherrn im privaten Salon des Sektionschefs Tuzzi beziehungsweise in dem
483 FRANZ WERFEL, Eine blaßblaue Frauenschrift (Ersterscheinung 1941).
484 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 92 (Ersterscheinung des ersten Teils Berlin 1930, des
zweiten Teils Berlin 1933, des dritten Teils Lausanne 1943).
485 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 89.
486 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, im Besonderen S. 445–453.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277