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VI. Inszenierungen
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der unscheinbare kahlköpfige Mann, leicht vorgeneigt und oranghaft geknickt
in den Beinen, in einer Weise vor ihm stand, wie eine hohe Hofcharge aus vor-
nehmer Familie unmöglich durch sich selbst aussehen konnte, sondern nur in
Nachahmung von irgend etwas. Die Schultern hingen ihm vor, und die Lippe
herunter; er glich einem alten Amtsdiener oder einem braven Rechnungsbeam-
ten. Und plötzlich bestand kein Zweifel mehr, an wen er erinnerte; Graf Stall-
burg wurde durchsichtig, und Ulrich begriff, daß ein Mann, der seit siebzig Jah-
ren der Allerhöchste Mittelpunkt höchster Macht ist, eine gewisse Genugtuung
darin finden muß, hinter sich selbst zurückzutreten und dreinzuschaun wie der
subalternste seiner Untertanen, wonach es einfach zu gutem Benehmen in der
Nähe dieser Allerhöchsten Person und zur selbstverständlichen Form der Diskre-
tion wird, nicht persönlicher auszusehen als sie. […] mit einem raschen Blick
überzeugte sich Ulrich, dass Se. Exzellenz wirklich jenen eisgrauen, kurzen, am
Kinn ausrasierten Backenbart trug, den alle Amtsdiener und Eisenbahnportiers in
Kakanien besaßen. Man hatte geglaubt, daß sie in ihrem Aussehen ihrem Kaiser
und König nachstrebten, aber das tiefere Bedürfnis beruht in solchen Fällen auf
Gegenseitigkeit.“492 Dieser ironischen Beschreibung des Hofbeamten Grafen Stall-
burg und des kaiserlichen Verhältnisses zu „seinen“ Beamten ist kaum mehr etwas
hinzuzufügen. Sie spricht für sich und für die unbedeutende Leere, die in Musils
Augen die höchsten Chargen des Hofes mitsamt dem Allerhöchsten Herrn am
Ende der Monarchie kennzeichneten. Graf Stallburg – der gehorsame Diener des
Allerhöchsten Hauses par excellence, der in deutlichem Kontrast zu den Dienern
des Staats steht!
Vier höchst unterschiedliche Beamtentypen, die jeweils eine andere Beamten-
Mentalität repräsentieren: den umtriebigen, Scheinaktionen inszenierenden Gra-
fen Leinsdorff, kein „gelernter“ und installierter, sondern ein geborener Beamter,
der aber gerade deshalb geradezu symbolhaft Beamten-Mentalität zum Ausdruck
bringt. Wir lernen die typisch „kakanische“ Form von Regierungskunst kennen in
der Person des klugen, kompetenten Sektionschef Tuzzi, der mit „seinen südländi-
schen Augen“ „an einen levantinischen Taschendieb“493 erinnerte und tatsächlich
inmitten der komplizierten und intriganten Wiener Welt auf höchst unauffällige
Weise die Geschicke des Staates zu dirigieren wusste, den er für ein hohes, viel-
leicht das höchste Gut und daher für wert hielt, dass man ihm diente. Wir begeg-
nen dem sensiblen, klugen, gebildeten, aber lethargisch in sich gekehrten Künstler
492 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 84 f.
493 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 195.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277