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2. Selbstinszenierungen – Selbstzeugnisse
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Literaten einen unangebrachten Stolz hinter der Reserviertheit vermuteten, bezog
die Bürokratie ihre Distanziertheit gegenüber anderen Staatsbürgern aus dem Be-
wusstsein, dass sie ihr Leben der hohen Aufgabe widmete, im Namen von Kaiser
und Vaterland, Ordnung im Staat zu schaffen, also ein Amt innezuhaben, das an-
dere nicht besaßen. Dass die Herstellung von Ordnung die eigentliche Aufgabe
der Bürokratie war, gehörte als Selbstverständlichkeit zu ihrer Dienstauffassung.
Diese Aufgabe empfand die Beamtenschaft als unauslöschliches Siegel. Demgemäß
übertrugen viele von ihnen mit Stolz und Überzeugung ihre geordnete Bürotä-
tigkeit auf ihr Privatleben in Form einer strengen Tages- und Zeiteinteilung, der
Essens- und Ruhegewohnheiten, Lektüre, Spaziergänge, Empfänge und Besuche.507
Es war Teil ihrer persönlichen Selbstinszenierung, die die Schriftsteller anders – als
seltsam abartig – wahrnahmen. Die Diagnose der Schriftsteller, dass das Denken
der Bürokraten (fast) ausschließlich durch die Amts-Welt der Ränge und Hierar-
chien geprägt war, resultierte aus dieser Dienstauffassung, dass das Amt eine hohe
Auszeichnung sei. Deshalb wurden die dazugehörigen Rituale und Zeremonien
akzeptiert, die ihnen die Exklusivität ihrer Behördenwelt sowie die Berechtigung
ihres Kastengeistes508 nur bestätigten. Im Kosmos der Ränge und Rituale des nach
außen abgeschotteten Apparates waren die Beamten Insider. Hier fühlten sie sich
zu Hause, wodurch ihnen auch unter Umständen ein fröhlicher und spielerischer
Umgang damit ermöglicht wurde. Es scheint paradox, doch gerade „die [demons-
trierte] Unterwerfung unter das Ritual“ garantierte ihnen, wie Schmidt-Dengler
richtig feststellte, die höchstmögliche Autonomie.509 Friedrich Kleinwaechter wid-
met in seiner Lebensbeschreibung den Hierarchien, Rängen, Zeremonien und Ri-
tualen breiten Raum, stellt sie nie infrage, er lässt es sich allerdings auch angelegen
sein, seinen ironischen und selbstsicheren Umgang mit diesen bürokratischen Ab-
sonderlichkeiten zu demonstrieren. Die Zeremonie der Angelobung anlässlich des
„Einzugs ins k. k. Finanzministerium“ erzählt vom Zwang des Rituals, aber auch
von der lockeren Einstellung der jungen Beamten dazu.510
Ein Beamter hätte die spöttischen literarischen Beschreibungen seiner Welt
durch die Schriftsteller wohl kaum verstanden. Die Bürokraten lebten mit einer
Selbstverständlichkeit in diesem abgeschotteten Apparat. Und es war gerade diese
Selbstverständlichkeit, die die Literaten in Erstaunen versetzten.
507 Siehe Kapitel „Routine im Privatleben“; auch HEINDL, Zum cisleithanischen Beamtentum,
S.
1202.
508 Siehe Kapitel „Soziale Distinktionen“.
509 SCHMIDT-DENGLER, Der Herr im Homespun, S. 113.
510 KLEINWAECHTER, Der fröhliche Präsidialist, S. 13 und 22–26.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277