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VI. Inszenierungen
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schen Spiegelbild den Stillstand der zu Ende gehenden Monarchie.516 Es mag sein,
dass die Literaten den nahenden Untergang ihrer Kultur spürten. Grillparzer be-
zeichnete sich (bereits 1853) als „Dichter der letzten Dinge“.517 Die Mehrzahl der
hohen Beamten der Monarchie, zu diesem Urteil befragt, hätte mit Sicherheit die-
ses Symbol weit von sich gewiesen. Wie anders hätten sie denken sollen?
Die Elite-Bürokraten befanden sich in einem ununterbrochenen Zustand, den
Staat gegen die Ansprüche der Nationalitäten (manche auch die Nation gegen
den Staat) zu verteidigen, gegen unvernünftige Anmaßungen von Politikern jeder
Couleur und jeder Nation offen oder versteckt zu kämpfen, Unzulänglichkeiten
des kaiserlichen obersten Dienstherrn zu verdecken, das Reich gegen alle Widrig-
keiten der Parteien- und Nationalitätenwirren irgendwie funktionsfähig zu halten
und – das sei nicht vergessen – sich für die Verbesserung ihres Standes, ihrer je-
weils eigenen Karriere und Lebensbedingungen einzusetzen. Sie hatten deshalb
auch keinen Grund sich für irgendwelche „Scheinaktivitäten“, die ihre angebliche
Immobilität verdecken sollten, zu schämen.
Aber können wir wirklich so verallgemeinern? Auch die hohe Bürokratie be-
stand nicht nur aus Elite. Ein Teil der Beamten mag in dieses Bild des „bürokra-
tischen Selbstverständnisses“ gepasst haben, aber viele andere dienten im grauen
Heer der Beamten. Darum sei an dieser Stelle noch einmal an die so verschie-
denen Beamtentypen erinnert, die Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigen-
schaften“ plastisch hervortreten lässt. Er skizziert scharf die Beamtentugenden
und Untugenden, die Besonderheiten und Allgemeinheiten, verteilt sie allerdings
auf mehrere Figuren der Bürokratie, wie es in der Realität wahrscheinlich der Fall
war:518 erzkonservative, scheinaktive, korrekt-ängstlich-desinteressierte, geheime
Mächtige – sie alle finden bei Musil Platz und machen die altösterreichische Be-
amtenschaft lebendig, greifbar. Die „basic personal characteristics“,519 die „Menta-
lität“ der hohen Diener des Staates, besaß viele Facetten.
Das damalige und auch das spätere Publikum machte sich die Charakterisierung
einfacher, bezeichnete die typisch bürokratischen Eigenschaften als „josephinisch“
und meinte damit die österreichische Ausprägung der Bürokratie. Doch was wurde
unter dem Begriff „josephinisch“ oder unter josephinischer Beamter verstanden?
516 MAGRIS, Der habsburgische Mythos, S. 17; siehe auch SCHMIDT-DENGLER, Der Herr im
Homespun, S. 110.
517 FRANZ GRILLPARZER, Ich rede nicht, zit. von MAGRIS, Der habsburgische Mythos, S. 134.
518 Siehe Kapitel „Literarische Inszenierungen“.
519 Siehe S. 245.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277