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VII. Josephinismus und Moderne um 1900
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Es stellte sich heraus, dass der Porträtierte überraschenderweise ein unbekann-
ter Beamter des Eisenbahnministeriums war, der aus einer galizisch-polnischen
verarmten Adelsfamilie stammte. Ebenso überraschend war, dass Adolf Loos es
war, der Kokoschka den Auftrag erteilt hatte, den psychisch kranken Janikowski
in der Krankenanstalt Steinhof zu malen.567 Kokoschka muss von den markanten
Gesichtszügen Janikowskis fasziniert gewesen sein. Er war übrigens zu dieser Zeit
nicht der einzige Maler, der in Steinhof einen Malauftrag bekam, und Janikowski
war nicht der einzige Kranke, der porträtiert wurde.568 Die Kunst hatte die expres-
sive Ausdruckskraft „siecher Körper“ entdeckt – abgelehnt allerdings von vielen
Kunstfreunden des Wiener Publikums.569 Der in der Beamtenforschung gänzlich
unbekannte Janikowski beziehungsweise sein Porträt erhielt für die Kunst sowie
für die spätere Kunstgeschichte besondere Bedeutung, denn Kokoschka sollte die
neue Maltechnik, die er bei Janikowskis Porträt anwendete, auf andere Porträt-
darstellungen übertragen. Außerdem wurde er auch in der Literaturwissenschaft
„unsterblich“: Denn er war ein Freund und Mitarbeiter von Karl Kraus. Als sol-
cher dürfte Janikowski in der Krankenanstalt Steinhof vermutlich mehr Aufsehen
erregt haben als andere Patienten. In dieser engen „Verbindung zwischen Litera-
tur, Psychoanalyse und Malerei“ der Jahrhundertwende570 ist auch die Existenz des
Beamten Ludwig von Janikowski zu sehen.
Was für eine Überraschung! Sollte es in Wien um 1900 Beamte gegeben haben,
die enge Verbündete und Freunde der Künstler waren, wie es im aufgeklärten
Zeitalter Josephs II. gang und gäbe war?571 Über die Person Janikowskis selbst ist
allerdings viel weniger bekannt als über seine Künstlerfreunde: Adolf Loos, Karl
Kraus, Peter Altenberg, Oskar Kokoschka.572 Die Frage nach dem Leben und Be-
amtendasein dieses geheimnisvollen Beamten Dr. Ludwig Ritter von Janikowski
567 Tobias Natter, der meines Wissens Einzige, der zum Leben Janikowskis recherchierte, berichtet,
dass es im Archiv von Steinhof keine Krankengeschichte zu Janikowski gebe. NATTER, Oskar
Kokoschka, S. 112.
568 GEMMA BLACKSHAW, LESLIE TOPP, Erforschungen des Körpers und Utopien des Irrsinns.
Geisteskrankheit, Psychiatrie und bildende Kunst in Wien zwischen 1898 und 1914. In: Kunst
und Wahn, S. 37.
569 GEMMA BLACKSHAW, Der moderne Mensch als „Wahnsinniger“, S. 59.
570 Zum Folgenden GEMMA BLACKSHAW, LESLIE TOPP, Einleitung zu Kunst und Wahn. In:
Kunst und Wahn, S. 12 f.
571 Siehe Kapitel „Andersgläubige, Sozialdemokraten und Künstler“.
572 PAUL SCHICK, Karl Kraus in Selbstzeugnissen (Reinbek bei Hamburg 1968), S. 57 f., bringt
einige Details zur Beziehung Karl Kraus und Janikowski. Oskar Kokoschka war Janikowskis
Porträtist. Ob er auch sein Freund war, wissen wir nicht.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277