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VII. Josephinismus und Moderne um 1900
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seinen Beamtenberuf gehasst. Nicht nur einmal spricht er von der Gefahr der
„bureaukratischen Vertrottelung“, der er ausgesetzt gewesen sei.581 Nur Wien, die
Freunde Loos, Altenberg und vor allem Karl Kraus hätten ihn vor der sicheren
„Bureaukretinisierung“ gerettet, eine Äußerung, die seine tiefe Abneigung gegen
sein „Ministerial-Leben“ enthüllt.582
Das zweite – eigentliche – Leben des Beamten Janikowski spielte sich also im
dichten kreativen Milieu der Künstler in Wien um 1900 ab. Janikowski verliebte
sich seinen Aussagen zufolge auf den ersten Blick in die bunte Vielfalt der Stadt.583
Er hatte im Jahre 1904 Karl Kraus durch Adolf Loos und Peter Altenberg kennen-
gelernt, Verbindungen, die seiner Beziehung zur Stadt Wien sicherlich Farbe ga-
ben und seine Zuneigung vertieften. Er verbrachte, so sagte er, mindestens 1.000
(lustige?) Nächte mit Altenberg und arbeitete mindestens 500 Nächte mit Karl
Kraus an der Redaktion der „Fackel“ und an Übersetzungen aus der und in die
polnische Sprache.584 Die Verbindungen des Beamten Janikowskis waren nicht so
ungewöhnlich, wie sie uns erscheinen mögen. Die Kontakte in der damaligen
Kunstwelt waren vielfältig. „Nie zuvor“, so Gemma Blackshaw und Leslie Topp,
„ist die städtische ,Intelligentsia‘ in intensiverem Austausch miteinander gestan-
den als damals“ im Fin de Siècle.585
Die glückliche Zeit Janikowskis in Wiener Künstlerkreisen war nicht von lan-
ger Dauer. Schon 1907 (vielleicht bereits 1905) klagt er in einem Urlaubsbrief aus
Krakau, dass sich seine „Depressionen und Lebensunfähigkeit“ noch gesteigert
hätten.586 Seine Versuche, seinen Geist in Zakopane in „Wald- und Bergeinsam-
keit“ zu erfrischen und sein offensichtlich beruhigender Aufenthalt in der Woh-
nung von Karl Kraus nützten nur kurzzeitig. Im September 1909 finden wir ihn
nach einem Selbstmordversuch in der öffentlichen Krankenanstalt Steinhof.587
581 Zum Beispiel Janikowski an Karl Kraus, Steinhof, Juli 1910, H.I.N. 169.168, WIENBIBLIO-
THEK IM RATHAUS, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus.
582 Janikowski an Karl Kraus, Juni 1910, Krakau, H.I.N. 174.163, WIENBIBLIOTHEK IM RAT-
HAUS, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus.
583 Janikowski an Karl Kraus, Steinhof, Juni 1910, H.I.N. 174.641,WIENBIBLIOTHEK IM RAT-
HAUS, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus.
584 Janikowski an Herrn Jahoda, Steinhof, Jänner 1910, H.I.N. 161.831, WIENBIBLIOTHEK IM
RATHAUS, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus.
585 GEMMA BLACKSHAW, LESLIE TOPP, Einleitung zu Kunst und Wahn, S. 11.
586 Janikowski an Karl Kraus, Krakau (undatiert), H.I.N.169.141, WIENBIBLIOTHEK IM RAT-
HAUS, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus.
587 Janikowski an Karl Kraus, Krakau, 11. September 1907, H.I.N. 169.144, Zakopane, 13. Septem-
ber 1908, H.I.N. 169.146 und Steinhof, 3. September 1909, H.I.N. 169.149, Steinhof, 9. April
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277