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zen59 aber zum Teil ausblendeten : So postuliert der Kommunismus die klassen-
lose, auf Solidarität beruhende Gesellschaftsordnung, während der Faschismus
die Naturnotwendigkeit von Herrschaft und Unterordnung propagiert sowie
den ewigen Kampf der Völker bzw. der »Rassen« ums Dasein und das Recht des
Stärkeren als Lebensprinzip. Die »Totalitarismustheorien« zählten daher in den
1980er Jahren zum »Gerümpel des Kalten Kriegs«60 und wurden in dieser Phase
aus der historischen Forschung fast zur Gänze verbannt. In der heutigen His-
toriografie sind Totalitarismusmodelle wieder möglich, sofern sie vergleichend
und nicht gleichsetzend vorgehen. Sie sind unter anderem in den theoretischen
Ansätzen zur »Politischen Religion«61 des »Fascismo«-Experten Emilio Gentile
zu finden.62
In Fortführung der Thesen Noltes beschrieb der deutsche Historiker Wolf-
gang Wippermann63, der auf zahlreiche einschlägige Publikationen zurückbli-
cken kann, den »Fascismo« in Italien als »faschistischen Realtypus«64 : Jene Par-
teien und Bewegungen, die im Hinblick auf Erscheinungsbild, politischen Stil,
ideologische Ausrichtung, soziale Funktion, Art und Weise der Machtergreifung
sowie die Struktur ihrer Regime bedeutende Ähnlichkeiten mit dem italieni-
schen Faschismus aufweisen, seien demnach als »faschistisch« zu bezeichnen.65
»Diese Parteien waren hierarchisch nach dem Führerprinzip gegliedert, verfügten
über uniformierte und bewaffnete Abteilungen und wandten einen damals neuartigen
spezifischen politischen Stil an, den man auf Massenkundgebungen und auf Massen-
aufmärschen zelebrierte, wobei der jugendliche und vor allem männliche Charakter
der einzelnen ›faschistischen‹ Parteien betont wurde. Hinzu kam eine ausgesprochene
pseudoreligiöse Ausrichtung. … Doch im Mittelpunkt sowohl der Propaganda wie der
Politik stand die Gewalt. Sie wurde in offener und ritualisierter Form gegen ›Feinde‹
und ›Fremde‹ gleichermaßen eingesetzt, was Außenstehende sowohl abschreckte wie
anzog und im Innern den Zusammenhalt der Parteimitglieder festigte.«66
Erstaunlich ähnlich und in Verklammerung mit anderen Modellen finden sich
Wippermanns theoretische Charakterisierungen in literarisierter Form in di-
59 Vgl. Kühnl, Faschismustheorien, S. 137.
60 Gentile, Eine Definition zur Orientierung, S. 81.
61 Siehe dazu Gentile, Le religioni della politica. Liegt auch in englischer Übersetzung vor : Gen-
tile, Politics as Religion.
62 Vgl. Gentile, Eine Definition zur Orientierung, S. 81.
63 Wippermann hatte in den 1970er Jahren bei Nolte promoviert.
64 Vgl. Wippermann, Hat es Faschismus überhaupt gegeben, S. 56.
65 Vgl. ebd., S. 64.
66 Vgl. ebd. 27
Diskussion der zentralen Begriffe |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319