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Diese – biologistisch anmutende – These, die auch Jelinek mit Bestimmtheit
ablehnt (wie unter anderem in dem Kapitel über »Burg theater« auseinander-
gesetzt wird), war vor allem in der amerikanischen Publizistik lange populär.
Der erwähnte US-amerikanische Soziologe und Politikwissenschafter Daniel
Goldhagen, Sohn eines Holocaust-Ăśberlebenden, provozierte in seinem 1996
veröffentlichten Buch »Hitlers willige Vollstrecker«80 mit der Behauptung, dass
die nationalsozialistische Judenvernichtung aufgrund eines in der christlich ge-
prägten Bevölkerung des Deutschen Reichs tief verankerten »eliminatorischen
Antisemitismus«81 heraus habe durchgeführt werden können, was (vor allem
in Deutschland aber auch international) heftige Reaktionen in Wissenschaft
und Publizistik auslöste. Auch die Kirche wehrte sich gegen Goldhagens Vor-
würfe, der radikale europäische Antisemitismus sei eine »Begleiterscheinung des
Christentums«82 gewesen.
Abseits der streitbaren Studie von Daniel Goldhagen kommen die neuen,
entscheidenden Impulse der vergleichenden Faschismusforschung seit Beginn
der 1990er Jahre tatsächlich nicht aus dem deutschsprachigen Raum oder Ita-
lien, sondern vor allem aus den USA und England. Tragende Namen dieser
neuen (dritten) Konjunktur sind etwa Roger Griffin, Roger Eatwell, Kevin Pass-
more, Robert O. Paxton, Richard Thurlow oder Michael Mann.83
Deren Publikationen stellen in der Regel VerknĂĽpfungen, Differenzierun-
gen und Weiterentwicklungen älterer Modelle dar. Die Leistungen früherer
Forschungsarbeiten sind daher trotz aller Kritik nicht von der Hand zu weisen.
Doch die »Untersuchung einer Extremität mag in Hinblick auf das ganze Tier
vielleicht zu falschen Schlüssen führen«84. Stellen sich ältere Theorien also vor
allem als Fokussierungen auf spezifische Einzelaspekte des Faschismus dar, ver-
suchen neuere Ansätze zumeist das Phänomen als Ganzes zu erfassen.
So etwa die Arbeiten des in Oxford lehrenden Zeithistorikers Roger Griffin,
der mit seiner 1991 publizierten Monografie »The Nature of Fascism«85 viel
Aufsehen erregt hatte : Griffin plädiert darin für die Beibehaltung des gene-
rischen, ideologiezentrierten Faschismuskonzepts. Er greift mit seiner Theorie
auf Vorarbeiten von George Mosse86 zurück und versucht in »The Nature of
Fascism« einen vergleichenden, idealtypischen Faschismusbegriff zu schaffen,
80 Goldhagen, Hitler’s willing executors. Liegt auch in dt. Übersetzung vor : Goldhagen, Hitlers
willige Vollstrecker.
81 Ebd., S. 71–105 sowie 107–161.
82 Ebd., S. 71.
83 Vgl. Reichardt, Neue Wege, S. 10 sowie Fußnote 7 desselben Texts.
84 Paxton, Die fünf Stadien des Faschismus, S. 67.
85 Griffin, The Nature of Fascism.
86 Vgl. Mosse, International Fascism. Vgl. auch : Ders.: The Fascist Revolution.
30 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319