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Dieser unmittelbar nach Kriegsende gefestigte Mythos, der nicht nur der in-
nerösterreichischen Selbstvergewisserung, sondern auch der neuen, außenpoli-
tischen Positionierung Österreichs diente, blieb über Jahrzehnte hinweg mehr
oder minder unangetastet als Teil eines nationalen Konsens‹ bestehen.
Der tatsächlich existierende Widerspruch zwischen dieser Auffassung und
der historischen Realität brauche »nicht näher erläutert«215 zu werden, befindet
Zeithistorikerin Heidemarie Uhl, weist aber trotzdem auf die breite Zustim-
mung der Österreicher zum so genannten »Anschluss«, die starke Identifikation
mit der Deutschen Wehrmacht und die Virulenz eines aggressiven Antisemitis-
mus hin.216
Parallel und zum Teil im Widerspruch zum Opfermythos konnte sich seit
1949/50 im innerösterreichischen Gedächtnis ein Narrationsstrang festsetzen,
der den Kriegsdienst von Österreichern in der Deutschen Wehrmacht neu zu
bewerten suchte. Weil die »Minderbelasteten« zu den Wahlen 1949 wieder zu-
gelassen waren, setzten sich Politiker aller Parteien in dieser Phase öffentlich für
die volle Ehrenrettung ehemaliger Wehrmachtssoldaten ein. Während Denk-
mäler für die Opfer des Nationalsozialismus nur wenige Jahre nach dem Krieg
als »Instrumente kommunistischer Propaganda«217 verpönt waren, setzte eine
breite Bewegung für die Errichtung von Gefallenendenkmälern ein.218 In einem
Zeitungskommentar aus dem Jahr 1949 hieß es, dass die Gefallenen des Zwei-
ten Weltkriegs von nun an einen Ehrenplatz im »Gedächtnis unseres Volkes«
einnehmen müssten und ihrer als »Helden der Pflichterfüllung und Tapferkeit«
gedacht werden sollte.219 Erst die deutsche Wehrmachtsausstellung, die Ende
der 1990er Jahre erstmals auch in Österreich gezeigt wurde, brach mit dem Bild
von der »sauberen Wehrmacht« und löste eine heftige und emotional geführte
Debatte um die Rolle von Österreichern in der Wehrmacht aus.220 Gerade in
dem Nebeneinander widersprüchlicher Narrationen bestehe aber das eigentli-
che Charakteristikum österreichischer Geschichtspolitik, befindet Uhl.221
In den 1960er Jahren, angeregt durch den Generationenwechsel und die da-
mit verbundene gesellschaftliche Aufbruchssituation, wurden die Grenzen zwi-
schen den politischen Lagern durchlässiger. Die Schlagworte »Modernisierung«
215 Uhl, Das »erste Opfer«, S. 21.
216 Vgl. ebd.
217 Gustav Canaval in einem Zeitungskommentar 1954, zitiert nach : Ebd., S. 24.
218 Vgl. ebd., S. 23 f.
219 Zeitungskommentar aus der »Murtaler Zeitung«, zitiert nach : Ebd., S. 24.
220 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung : Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–
1944 ; vgl. auch Manoschek, Die Wehrmacht im Rassenkrieg ; Hartmann, Verbrechen der
Wehrmacht ; Embacher, Umkämpfte Erinnerung.
221 Vgl. Uhl, Das »erste Opfer«, S. 20 sowie S. 23–26. 49
Diskussion der zentralen Begriffe |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319