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wenn diese Herausforderung geschafft ist, sind die gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen der jeweiligen Sprachgemeinschaft trotzdem immer noch gänzlich
andere. Daher wurden bisher vorrangig die narrativen Texte (»Die Liebhaberin-
nen«, »Die Klavierspielerin«, »Die Ausgesperrten«) in Fremdsprachen übersetzt
sowie die frühen Theaterstücke (mit Ausnahme des »Burg theater«-Stücks, das
eine hochartifizielle Sprache aufweist). Durch die Verleihung des Nobelpreises
wurden jedoch auch in dieser Hinsicht neue Anstrengungen unternommen : So
liegen etwa inzwischen Übersetzungen neuerer Theaterstücke ins Englische und
Französische vor sowie Übersetzungen ihres großen Romans »Die Kinder der
Toten« ins Niederländische, Russische, Polnische und Japanische, die französi-
sche Ausgabe (»Enfants des Morts Seuil«) wurde 2006 mit dem André-Gide-
Preis ausgezeichnet.
Als für die Rezeption weiters einschränkende Komponente muss hier eben-
falls auf die Zeitbezogenheit vieler Jelinek-Texte verwiesen werden : Das viel-
fache Rekurrieren auf zeitgenössische Diskurse ermöglicht der Schriftstellerin
zwar den Kommentar und die Kritik an aktuellen Geschehnissen und Rahmen-
bedingungen, macht aber ein Verständnis aus der nachträglichen Perspektive
nur bedingt möglich – was der Autorin jedoch sehr wohl bewusst ist. Schließ-
lich sei es ihr wichtig, ihre Literatur in den Dienst »der politischen Aussage
zu stellen«408, was eine Bindung an gegenwärtige Verhältnisse zwangsweise
mit sich bringt. Vor allem die Sprache der Medien ist einem ständigen Wandel
unterworfen ; Anspielungen auf aktuelle Fernsehserien, Kinofilme, Werbespots
oder Zeitungsmeldungen sind daher für nachgeborene Generationen nur einge-
schränkt nachvollziehbar.
Selbsteinschränkungen nahm Jelinek wiederholt in Interviews vor, aber vor
allem auch in ihrer Nobel Lecture, deren Niederschrift mit dem Titel »Im Ab-
seits« als ihr »poetologisches Manifest«409 gehandelt wird. Nun, es wäre nicht
Elfriede Jelinek, wenn sie nicht auch die eigene Sprache, das eigene Schrei-
ben ihrem zentralen Verfahren, der Mythendestruktion, unterziehen würde. Ihr
Verhältnis zur Sprache sei durch gegenseitige Abhängigkeiten und wechselnde,
stets ungleiche Machtverhältnisse charakterisiert : Einmal sei es die Schrift-
stellerin, die sich der Sprache als »Wirkungsmaschine«410 bedient, einmal die
Sprache, die an der Schriftstellerin zerrt und zieht wie ein Hund, der seinen
Besitzer »an der Leine hinter sich her zerrt«411 und die Richtung, in der es wei-
tergeht, vorgibt. »Wenn ich schreibe, dann führen mich bei irgendeinem Wort
408 Ebd., S. 20.
409 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 257.
410 Ebd.
411 Jelinek, zitiert nach : Ebd. 77
Poetologische Einführung |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319