Seite - 101 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
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Jeder Text sei ein »Mosaik von Zitaten«, sei »Absorption und Transformation
eines anderen Textes«8. Kristeva hinterfragte nicht mehr (nur) das VerhÀltnis
verschiedener Stimmen innerhalb eines Textes, sondern auch innerhalb ver-
schiedener Texte. Der Ausdruck »IntertextualitĂ€t« war dabei ein neues Wort fĂŒr
einen lÀngst diskutierten Sachverhalt, so Peter Stocker. Was den »Attraktions-
oder Sensationswert« dieses neuen Begriffs ausmachte, sei allerdings der Ver-
such gewesen, ihn »als einen Globalbegriff zu etablieren, der manches, was davor
vereinzelter Betrachtung ĂŒberlassen blieb, im Zusammenhang verstehen lĂ€Ăt«.9
Kristevas Charakterisierung eines Texts als »Mosaik von Zitaten« birgt al-
lerdings die Gefahr in sich, dass die IntertextualitÀt mit dem Zitat verwechselt
oder auf das Zitat reduziert wird, was tatsĂ€chlich â auch in der Jelinek-For-
schung â hĂ€ufig der Fall ist. Das Zitat ist aber nur eine von vielen möglichen
intertextuellen Spielformen, ebenso wie die Anspielung. Auch wenn Zitat und
Anspielung zum »Kernbereich der IntertextualitÀt«10 gehören, sind sie mit dieser
aber trotzdem »nicht identisch«11.
Nach Zima bedeutet der IntertextualitÀtsbegriff die »dialogische Reaktion
literarischer und nichtliterarischer Texte auf zeitgenössische oder historische
Diskurse und Diskursgattungen«12. Dies umfasse sowohl die bewusste als auch
die unbewusste Verarbeitung von Gehörtem oder Gelesenem.13
FĂŒr den Literaturwissenschafter eröffnet das Mitdenken von Intertextuali-
tÀt in jedem Fall eine neue Dimension des zu untersuchenden Ausgangstextes
(auch »Posttext«14), denn dem Forschungsobjekt haftet nun der Charakter eines
Folgetextes an, der sich auf einen, mehrere oder viele PrÀtexte bezieht. Die-
ser Bezug schafft eine Metaebene, auf der inhaltliche und formale Aspekte der
Text-Text-Beziehung reflektiert werden mĂŒssen.15
Die Bezugnahme auf andere Texte wird vom Autor bewusst oder unbewusst
hergestellt. Sie kann fĂŒr den Rezipienten offensichtlich (»markiert«) oder ver-
schlĂŒsselt (»unmarkiert«) sein.16 Prinzipiell ist der Bezug zu allen denkbaren
Textsorten möglich, zu politischen oder philosophischen Abhandlungen ebenso
wie zu (bei Jelinek sehr oft herangezogenen) trivialen Formen, zum Beispiel
8 Kristeva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.
9 Stocker, Theorie der intertextuellen LektĂŒre, S. 18.
10 Ebd., S. 21.
11 Zima, Das literarische Subjekt, S. 187.
12 Ebd.
13 Vgl. ebd.
14 Vgl. Stocker, Theorie der intertextuellen LektĂŒre, S. 15.
15 Vgl. Becker, Literatur- und Kulturwissenschaften, S. 139.
16 Zur Auseinandersetzung mit »markierten« und »unmarkierten« Formen vgl.: Helbig, Intertex-
tualitÀt und Markierung. 101
Zur IntertextualitĂ€tâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319