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sellen ? Kraxeln sie nicht mehr, Àhnlich den Kasermanndln, jenen flinken Kobolden der
VollmondnĂ€chte, die sich nur guten Menschen zeigen, in den Bergen herum ? MĂŒhsam,
den Faden verlierend : Absteifen sie nicht ihre Lieder im Kassenkas ? Im Massenkaas ?
Dann isses ja guat.173
In dieser Szene erscheint KĂ€the nicht nur als verwirrt oder entrĂŒckt, sondern
auch eindeutig als von der nationalsozialistischen Rassenideologie beeinflusst,
indem sie Juden als spitznasige, plattfĂŒĂige Kobolde imaginiert, dieÂ
â wie Fabel-
wesen in TheaterstĂŒckenÂ
â in Bergen herumkraxeln und ĂŒber Wiesen und Auen
schleichen. KÀthe scheint die RealitÀten der Theaterwelt mit den RealitÀten
der tatsÀchlichen, nationalsozialistisch determinierten Welt zu vermischen, so
wie sie auch stÀndig Dialekt und Hochsprache vermischt.
Ihre fortschreitende EntrĂŒckung Ă€uĂert sich nicht nur sprachlich, sondern
auch darin, dass sie auf unterschiedliche Arten versucht, sich selbst das Leben
zu nehmen â meist halbherzig, also mit dem Vorsatz, nicht wirklich sterben zu
wollen, aber vielleicht doch Aufmerksamkeit zu erregen. KĂ€the ist diejenige,
die sich auf die verÀnderten VerhÀltnisse 1945 am schlechtesten einstellen kann.
Immer wieder fÀllt sie in die Rolle der Marie Thomas aus »Heimkehr« und
rezitiert Passagen aus dem Film, auĂerdem trĂ€gt sie â trotz ihrer Angst vor den
Russen â immer noch ein Hakenkreuzkettchen um den Hals. Steiner macht da-
rauf aufmerksam, dass auch Launhardts Ehefrau, eine der weiblichen Figu-
ren in »Heimkehr«, ein solches Kettchen trĂ€gt und fĂŒr ihre nationalsozialistische
Ăberzeugung im Film von den Polen zu Tode gesteinigt wird.174 In Zusammen-
hang damit könnten KĂ€thes BĂŒhnenselbstmorde gesehen werden.175 Ăber die
Selbstmordversuche hinaus versucht KÀthe sogar, ihre Àlteste Tochter, Mitzi,
zu töten : Als sie einen »bösen Kaffeefleck«176 auf dem Kleid ihrer Tochter ent-
deckt, ĂŒbergieĂt sie diese mit Benzin und versucht sie anzuzĂŒnden : Der Krieg
ist verloren, der braune Fleck muss weg ! Im letzten Moment kann sich Mitzi
vor der rasenden Mutter retten.177
Ein berechtigter Einwand könnte an dieser Stelle die Frage sein, ob Jelinek
die Figur KĂ€the nicht ein wenig aus der Verantwortung nimmt, indem sie
diese mehr und mehr als unzurechnungsfÀhig darstellt. Es ist jedoch vielmehr
zu vermuten, dass die Autorin mit der ĂŒberzeichneten Figur KĂ€the gerade das
173 BT, S. 154.
174 Vgl. Steiner, Die verdrÀngten Jahre, S. 187.
175 Auch eine andere Deutungsvariante, die in Kapitel 3.1.6 dieser Studie angeboten wird, er-
scheint plausibel.
176 BT, S. 174.
177 Vgl. BT, S. 174 f. 137
»Burg
theater«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319