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waren.182 Nicht ganz zufällig also hat Jelinek diese Figur
– eine »Mischung aus
Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide«183 – in ihr Stück eingebaut.
Durch Jelineks Alpenkönig wird aber auch die Möglichkeit alternativer
Verhaltensweisen vorgeführt, welche die Protagonisten – aus opportunistischen
Erwägungen
– strikt ablehnen. Der Mord an ihm wird
– nach sprachlicher Wie-
ner Art – zum »Morderl« verkleinert und damit gerechtfertigt, dass er der In-
tention des NS-Regimes, so genanntes »lebensunwertes Leben auszumerzen«,
nachkommt. Der Alpenkönig entspricht dieser Charakterisierung gleich in
zweifacher Hinsicht : zum einen, weil er sich als Regimegegner und Wider-
ständiger zu erkennen gibt, und zum anderen, weil er dem Rassenideal vom
gutgebauten, allem standhaltenden »Herrenmenschen« nicht entspricht, das in
den Nürnberger Gesetzen (nach Rathkolb »Pseudogesetze«184) von 1935 fest-
geschrieben worden war.185 Die nationalsozialistische Diktion wird dabei durch
wienerische Pendants (»Schlawiner«,186 »Krispindl«187) ersetzt.188
Sowohl mit dem Alpenkönig als auch mit dem Burg theaterzwerg,
für dessen Verkörperung sich Jelinek in der Regieanweisung »Fritz Hackl«
wünscht (vermutlich eine Anspielung auf den österreichischen Künstler Karl-
heinz Hackl), wird ganz offen die Wiener Volkstheatertradition à la Ferdinand
Raimund parodiert, denn »selbstverständlich handelt es sich bei ›Burg theater‹
weder um ein Revival des Altwiener noch des neueren kritischen Volksstücks«189.
Vielmehr geht es hier um die Destruktion des fatalen Volksbegriffs, der »trotz
aller wissenschaftlichen Dementis im Begriff des Volksstücks steckt«190.
Erstmals erwähnt wird der Zwerg am Beginn des zweiten Teils, als Resi die
zunächst leere Bühne betritt und das »Burg theaterzwergerl« hinter sich »her-
schleift«, auf der Suche nach einem Versteck für ihren Schützling, den sie of-
fenbar bereits längere Zeit über vor den Nationalsozialisten, aber auch vor der
Familie versteckt gehalten hatte :
Resi : Wo ist ein Verstecker, welches mir noch nicht gehabt haben ?
182 Eine Aufzeichnung aus dem Burgtheater ist auf DVD erhältlich, vgl. http://www.burgthe-
ater.at/Content.Node2/home/service/shop/25-Der-Alpenkoenig-und-der-Menschenfeind.
at.php (Zugriff am 6.12.2007).
183 BT, S. 143 (Regieanweisung).
184 Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, S. 268.
185 Vgl. 1. 4. 1. dieser Studie.
186 BT, S. 147 und S. 148.
187 BT, S. 148.
188 Vgl. Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 184.
189 Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 48.
190 Lengauer, Jenseits vom Volk, S. 219. 139
»Burg
theater« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319