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Tatsächlich ist Resis Verhalten nicht ein einziges Mal als krankhaft zu inter-
pretieren. Die von der Familie ins Treffen geführte »erbliche Schwachsinnig-
keit« wird vielmehr dazu benutzt, Resi als Bedienerin missbrauchen zu können.
Letzten Endes entpuppt sich Resi als die einzige Figur, die (wenn auch aus
unlauteren Motiven) die Gesetze des Regimes bricht, indem sie den Burg-
theaterzwerg vor der Euthanasie beschützt – als Kleinwüchsiger wäre er
von den Nationalsozialisten selektiert und misshandelt oder umgebracht wor-
den. Auch wenn sie vom Zwerg Liebesdienste für die erbrachte Hilfe erwartet,
die dieser uncharmant verweigert (»Glaubst, mir graust vor gor nix ?«199), so
bleibt doch die Tatsache bestehen, dass sie sein Leben rettet und damit für sich
selbst ein großes Risiko auf sich nimmt. Auch dem Alpenkönig begegnet sie
–
im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern – mit Menschlichkeit und
bietet ihm etwas zu essen an :
Resi kommt mit Nahrung : Der orme Mo ! Gonz verhungert is er schier ! Kommens mit,
i geb Ihne a Jausn !200
Seine Ermordung versucht Resi zu verhindern, indem sie die um sich schlagende
Käthe von hinten festhält und mahnt : »Gnä Frau ! Gnä Frau ! Jeschuschmaria !
Tuan Se sich nicht versündigen ! Der Herrgott siecht Ihnen zu !«201 Gegen die
gewalttätige Übermacht der Familie kann sie jedoch nicht viel ausrichten.
Resi, das unterste Glied der familieninternen Hierarchie, von den anderen
als minderbemittelt belächelt, erniedrigt und als Dienstbotin missbraucht, ist
somit die einzige Figur, die der Propaganda von Rasse und »Ariertum« nicht
aufsitzt und durch ihre Parteinahme für den Alpenkönig und das Verstecken
des Burg theaterzwergs tatsächlich Widerstand leistet. Durch Resi wird
klar gemacht : Es geht auch anders.
3.1.3.6 MITZI, MAUSI und PUTZI »Oh fein ! Oh wie fein ! … Mir derfen
Menschenbildner sein !«202
Die zwei jüngeren Kinder, Mausi und Putzi, spielen keine nennenswerte Rolle
in dem Stück. Putzi könne sogar von einer »lebensgroßen Stoffpuppe«203 dar-
199 BT, S. 171.
200 BT, S. 146.
201 BT, S. 147.
202 BT, S. 136.
203 BT, S. 130.
142 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319