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»Sehr wichtig ist die Behandlung der Sprache, sie ist als eine Art Kunstsprache zu ver-
stehen. Nur Anklänge an den echten Wiener Dialekt ! Alles wird genauso gesprochen,
wie es geschrieben ist. Es ist sogar wünschenswert, wenn ein deutscher Schauspieler
den Text wie einen fremdsprachigen Text lernt und spricht.«215
Schon in der Regieanweisung wird damit der Bezug zu Barthes’ Mythentheo-
rien deutlich : Eine Kunstsprache, die natürlich sein will, gekünstelte Figuren,
die authentisch sein wollen
– all das widerspiegelt das Prinzip der Umwandlung
einer bewussten Intention in eine vermeintlich unschuldige Wahrheit. Denn
der Mythos verwandelt Geschichte in Natur. Er soll bestimmte Sachverhalte
(hier : die Sprache) natürlich erscheinen lassen, deren Entstehung bewusst mo-
tiviert war und von Menschenhand vorgenommen wurde, um einen bestimmten
Zweck zu verfolgen. Relevant für seine Bedeutung ist nicht sein Inhalt, sondern
seine Form.216
Um den destruktiven Effekt auf der Sprechebene zu verstärken, hat Jelinek
(in ihren mitunter recht ausführlichen Regieanweisungen) eine den Text beglei-
tende, aber meist konterkarierende Aktionsebene eingebaut. Die Asynchronität
zwischen enthemmter Action und raffiniertester Sprachlichkeit sei »meist auf-
reizend«, in jedem Fall aber »entlarvend«217, so die Rezensentin Sigrid Löffler.
Auch hat die Autorin filmische Darstellungsformen wie die Slapstick-Komik
des Stummfilms (»heiterste Stummfilmhölle«218) in ihr Stück integriert219, wel-
che die Wirkung der Aktionsebene zusätzlich unterstreichen.
Über die demonstrativ künstliche Bühnensprache und -aktion wird nicht
nur die Authentizität der Figuren, die Publikumslieblinge des Burg theaters
und des deutschsprachigen Nachkriegsfilms verkörpern, als Mythos destru-
iert. Jelinek greift damit auch den Mythos des Wiener Burg theaters an, denn
dieses gilt als das Synonym kultureller Identität, als repräsentativer Schauplatz
herrschender Hochkultur in Österreich, das so genannte »Burg theaterdeutsch«
als sprachliches Ideal.220 Nicht nur die Figuren sind als Schablonen zu be-
greifen, sondern auch das Burg theater an sich wird als schablonenhafter Ort
vorgeführt, denn interessanterweise sind die Rollen, in welche die Figuren auf
der Aktionsebene schlüpfen und über die sie sprechen, meist keine Theater-,
sondern Filmrollen.221
215 BT, S. 130.
216 Vgl. Kapitel 1.4.3 dieser Studie.
217 Löffler, Erhalte Gott dir deinen Ludersinn, S. 219.
218 Ebd., S. 218.
219 Vgl. Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 49.
220 Vgl. ebd., S. 47. Vgl. auch Annuß, Theater des Nachlebens, S. 61.
221 Vgl. Annuß, Theater des Nachlebens, S. 61. 145
»Burg
theater« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319