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Das Wiener Burg theater war während des Zweiten Weltkriegs durch Bom-
benangriffe zerstört worden. Am 15. Oktober 1955 wurde es mit »König Otto-
kars Glück und Ende« wiedereröffnet, die Titelrolle spielte Ewald Balser, den
Rudolf mimte Attila Hörbiger und die Kunigunde Judith Holzmeister.234
Beides, sowohl die Wahl des Premierenstücks, die wohl nicht zufällig auf Grill-
parzers vor »Österreicharie«235 strotzendes »Ottokar«-Drama fiel (das im Je-
linek-Text zweimal explizit genannt wird, wenn auch orthografisch verfremdet :
»Königottokarsglückundende«236), als auch die Besetzung des Rudolfs mit ei-
nem bedeutenden Darsteller diverser NS-Film- und Theaterproduktionen, mö-
gen Jelineks wiederholte Bezugnahme auf Grillparzers Stück veranlasst haben.
Zudem war das »Loblied auf Österreich« Teil des Deutschunterrichts – bis in
die 1970er Jahre hinein mussten Schulkinder diesen Text auswendig lernen.237
Auch andere Grillparzer-Titel oder -Verse werden im Laufe des Texts herbei-
zitiert, etwa »Medea« (die große »Rassentragedie«238) oder »Libussa«239. Dieser
Intertext ist demnach rekurrent und bildet schon per se eine eigene Destrukti-
onsebene.
Auch die Österreich-Beschwörungen am Ende des Stücks, die sich bei ge-
nauerem Hinsehen ebenso als »Anti«-Beschwörungen erweisen, destruieren ein
nach dem Krieg für den Opfermythos missbrauchtes Österreich-Bild, das die
sprichwörtliche »österreichische Gemütlichkeit« suggeriert und Sachertorte mit
Schlag ebenso einschließt wie Lippizzaner-Hengste und Mozart-Klänge :
Alle abwechselnd, Käthe blutet still : Davon wissen mir nix ! Des sengan mir gor net !
Wos mir net sengagn, des gibts net ! A Schachertuatn mit Schlog. … Das Kaffeetscherl
mit Hudelzupf. Das blütige Stuterl. Der Torpido. Die Brüte. Der Ränftling. Edel-
schweiß ! Knickschuß ! Der Fahlenberg. Der Rohrschnabulierer. Krambambuli. … Die
Bombenzische. Ka Kreuzer im Neck. Der gute Braune. Der Schlagoberbolzen. Das
Riesenkrad. Die herzhafte Kartausche. Das Grammelschwalznot. Der Krepierer. Der
Grillkarzer. Die fleißigen Henker. … Das Umbringel. Der Himmelreiß. Die Omi. Das
Wäschergasl. … Der Kaiserschmierer. Die Hofwürg. Der Schnalzer. Salzburg ! Das
Krepierl ! … Das Salzkammerblut. Motzhart. Das Scheißhäusl ! Schubert Brennzl. Der
Abortknüttel. Papa Haydn. Die goldenen Jahre der Tellerminette. Die silbernen Jahre
der Zyklonbette. Die Saubertöte. Die Senkgruabn. Ringstraßenmorderie … Das Haus
234 Vgl. Markus, Die Hörbigers, S. 229 ff. Vgl. auch Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 56.
235 Löffler, Ludersinn, S. 220.
236 BT, S. 144 sowie auf S. 189.
237 Vgl. Deutsch-Schreiner, Burgtheater, S. 139.
238 BT, S. 144.
239 BT, S. 144. 149
»Burg
theater« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319