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Habswürg. A Gasmüch. Das Judensternderl. Mamsch und Papsch. Das Musikkazett.
…
Das Wurzelmorderl. Der Finacker. Das Hunterl. Das Teatta. Das Burgteatta. Der Köp-
fungsfroh. Halberzehne. Der Teifel. Die guate Menschenhaut. Die Lampenstirn. (…)
Der Bombenmatsch ! Die Burgverrotter ! Der Hundekotter !240
Jelinek vermischt hier das österreichische Selbstbild von Gemütlichkeit, Mu-
sikalität, Wiener Kaffeehaus-Atmosphäre und der damit verbundenen selbst
zugeschriebenen Harmlosigkeit mit Waffen und Tötungsarten des Kriegs (Tor-
pedo, Schlagbolzen, Genickschuss etc.) sowie mit Gräueltaten der Konzentrati-
onslager (Vergasungen, Zyklon-B, auch wurden aus Menschenhaut tatsächlich
Lampenschirme gefertigt etc.). Mithilfe minimaler Veränderungen an den ein-
zelnen Wörtern wird aus Mozarts Zauberflöte die »Saubertöte«, aus dem Salz-
kammergut das »Salzkammerblut«, aus Grillparzer »der Grilllkarzer« etc. Auch
die vielen Diminutive, eine »Wiener Art«241, unterstreichen Österreichs schein-
bare Harmlosigkeit, so zum Beispiel das »Umbringel«, das »Wäschergasl«, das
»Krepierl«, das »Judensternderl« oder das »Wurzelmorderl«, womit nach dem
Krieg viel bemühte Beteuerungen ad absurdum geführt werden ; bei Denunzia-
tionen, Judenermordungen und anderen Kriegsverbrechen kann man schließlich
nicht »a bisserl« dabei gewesen sein.
Jelineks Destruktion der »Österreicharie«242, die an dieser Stelle als eine der
dominanten intertextuellen Ebenen des »Burg theater«-Stücks festgehalten wer-
den soll, verweist auf die ursprünglich von Karl Dietrich Bracher formulierte,
viel kritisierte These vom Nationalcharakter, wonach Faschismus jeweils ein
Produkt nationaler Besonderheiten wäre und sich der Nationalsozialismus in
Deutschland aufgrund eines unterstellten deutschen Nationalcharakters hätte
entwickeln können, womit etwa nicht erklärt werden kann, warum der Natio-
nalsozialismus gerade in Österreich so stark gegriffen hat.243 Schon Hugo von
Hofmannsthal hatte 1917 ein »Schema«244 erstellt, das nationale Charakterei-
genschaften der »Preußen« und »Österreicher« ersann :
240 BT, S. 188 f.
241 Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 184.
242 Löffler, Ludersinn, S. 220.
243 Vgl. Kapitel 1.4.1 dieser Studie.
244 Hofmannsthal, Prosa III, S. 407 ff.
150 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319