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Scheck mit der Unterschrift war für Goebbels »zu viel gewesen«349 : Er strich
Hörbiger von der Prominentenliste, der in Ungnade gefallene Schauspieler wurde
in Folge wegen Hochverrats zum Tode verurteilt350, worauf im »Burg theater«-
Stück mit folgender Bemerkung Käthes angespielt wird : »Unsaren Bruadan
haben sie zum Tode verurteilt, die braune Brut.«351 Schorsch schließlich sei
ein »beriehmter … Widerstandskämpfer«352. Der deutschsprachige Sender der
BBC meldete sogar Paul Hörbigers Tod353 – dem Hörbiger-Biografen Markus
zufolge eine gezielte Falschmeldung zur Demoralisierung jener Menschen, die
Feindsender hörten.354 Auch auf die Falschmeldung im Radio wird im Text ver-
wiesen, als Käthe ihren Schwager nach dessen Rückkehr aus der Haft erstaunt
begrüßt : »Mir hom glaubt, du seist neilich erscht liquidiert wurn.«355
Tatsächlich ist der Gesinnungswandel des erfolgreichen NS-Staatsschau-
spielers Paul Hörbiger mehr als fragwürdig. 1944/45 war der Zusammenbruch
des Regimes bereits voraussehbar. Das (nachvollziehbare) Unterschreiben eines
Schecks könnte als plumper Versuch interpretiert werden, kurz vor Kriegsende
noch schnell die Seiten zu wechseln, was Jelinek implizit unterstellt. Solche und
ähnliche Schlussfolgerungen sind jedoch rein spekulativ. Auch im Falle von Paul
Hörbiger kann und muss davon ausgegangen werden, dass er weder in die eine
noch in die andere Richtung politisch orientiert war, sondern sich um der Kar-
riere willen mit den jeweils gegebenen Verhältnissen arrangierte.
Auch ist es bezeichnend, dass Paula Wessely als erste Filmrolle nach dem
Krieg die Figur der Jüdin Henriette Stein in der Verfilmung von Ernst Lothars
Roman »Der Engel mit der Posaune« wählte. Der Film wurde zu einem der
größten Publikumserfolge der Nachkriegszeit. Er erzählt das Schicksal der Kla-
vierbauerfamilie Alt. Im Zentrum der Handlung steht die jüdische Ehefrau des
Klavierbauern, die Selbstmord begeht, als die Gestapo sie verhaften will – ein
symbolischer Akt, mit dem sich die Hauptdarstellerin, Paula Wessely »gewisser-
maßen selbst entnazifizierte«356.
Mit diesem Hintergrund sind schließlich auch Käthes inszenierte Bühnen-
selbstmorde in Jelineks »Burg theater«-Stück erklärbar, das aus der nachträgli-
chen Perspektive (in den frühen 1980er Jahren) verfasst wurde : Jelinek hat
– mit
unterstellter Absicht
– Ereignisse sowie Film- und Theaterauftritte der Wessely/
349 Markus, Die Hörbigers, S.179.
350 Vgl. ebd., S.178 f.
351 BT, S. 178.
352 BT, S. 178.
353 Vgl. Markus, Die Hörbigers, S.181.
354 Vgl. ebd.
355 BT, S. 179.
356 http://www.film.at/der_engel_mit_der_posaune (Zugriff am 5.3.2011). 169
»Burg
theater« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319