Seite - 177 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
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grundlegende, wissenschaftliche Erfassung des Buchs bislang nicht vorliege,
weil die angerissenen Themen einfach zu überbordend seien, und räumt ein,
auch mit ihrer Arbeit diese Leistung nicht erbringen zu können. Es muss al-
lerdings festgestellt werden, dass Mertens eine äußerst engagierte Arbeit vor-
gelegt hat, die in ihren analytischen Teilen weitestgehend textimmanent orien-
tiert ist und eine gute Basis für die Beschäftigung mit Jelineks Untotenmotiv
darstellt.
Den Auftrag, Jelineks großen Roman für das Handbuch der Forschungsplatt-
form in zehn knappen Spalten zusammenzufassen und zu analysieren, bewäl-
tigte Sabine Treude. Leider muss an dieser Stelle festgestellt werden, dass der
Verweis auf den Opfermythos in ihrem Beitrag gänzlich fehlt. Zwar schreibt
Treude von der »Verdrängung des Holocaust« und der »fehlenden Trauerarbeit
in Österreich«404, die in dem Roman thematisiert werden. Doch die nationale
Selbstcharakterisierung als Opfer geht über das Phänomen der Verdrängung
weit hinaus : Im Rahmen der Opferthese wird die Geschichte nicht nur ver-
drängt, sondern tatsächlich umgeschrieben. Wenigstens ein Hinweis auf den Op-
fermythos dürfte in einem Beitrag zu »Die Kinder der Toten« eigentlich nicht
fehlen, dies wird im Laufe des folgenden Kapitels deutlich ; bei einer Neuauflage
des Lexikons sollte diese erinnerungsgeschichtliche Dimension unbedingt mit-
einbezogen werden.
Als Referenzliteratur, die für die folgende Textanalyse ergänzend verwen-
det wurde, muss auf Hans Leberts wichtigen »Wolfshaut«-Roman405 verwie-
sen werden, der im Rahmen dieser Studie sowohl als thematischer als auch als
konzeptueller Prätext für Jelineks Roman begriffen wird, sowie auf Sigmund
Freuds Aufsatz »Das Unheimliche«406, auf den Mayer/Koberg (in einem Ne-
bensatz auch Pontzen) hinweisen. In Jelineks Roman ist in der Tat eine große
Übereinstimmung mit den grundlegenden Ideen, die Freud in diesem Aufsatz
formuliert hatte, festzustellen.
Warum es tatsächlich nicht einfach ist, klare Handlungsstränge aus »Die Kin-
der der Toten« zu extrahieren, diese in intertextuelle Deutungszusammenhänge
zu betten und auf diese Weise zu plausiblen Textinterpretationen zu gelangen,
soll im Folgenden kurz diskutiert werden.
tens, Die Ästhetik der Untoten, online abrufbar unter : www.univie.ac.at/jelinetz (Zugriff am
11.5.2011).
404 Treude, Die Kinder der Toten, S. 113.
405 Lebert, Hans : Die Wolfshaut. Leipzig : Neuer Europa Verlag 2008.
406 Freud, Das Unheimliche, S. 229–268. 177
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319